Bildungsweise

Susanne Posselt

Tagebuch

Eltern können nur Rat oder gute Anweisungen mitgeben, die endgültige Formung seines Charakters hat jeder selbst in der Hand. Dazu kommt noch, dass ich außerordentlich viel Lebensmut habe, ich fühle mich immer so stark und im Stande, viel auszuhalten, so frei und so jung!

Anne Frank am 15. Juli 1944

Wir haben unsere Schüler*innen in diesen Wochen dazu ermutigt, Texte zu schreiben, aufzuschreiben, was sie gerade so denken, wie es ihnen geht und was um sie herum geschieht. Manchmal hilft es ja, eine unwägbare Situation in Worte zu fassen und eine Sprache für das Unfassbare zu finden, um ihm eine Gestalt zu verleihen. Ich muss gestehen, dass mir selbst im Fluss des Schreibens die Wörter viel leichter von der Hand gehen, als durch die gesprochene Sprache. Vielleicht liegt es daran, dass sie in der Schrift eine sichtbare Gestalt erhalten. Dinge, die ich nur sage und nicht schreibe, geraten auch mir selbst sehr schnell wieder in Vergessenheit. Und manchmal, wenn ich etwas wiederfinde, was ich vor Jahren irgendwann einmal aufgeschrieben habe, bin ich zwar zunächst überrascht, dass ein scheinbar vergessener Text tatsächlich von mir stammt, beim Lesen tauche ich jedoch sogleich wieder in die Situation der Entstehungszeit ein. Es ist so, als ob der Text in irgendeinem Geheimfach die dazugehörigen Gefühle, Gerüche und Geräusche mit sich trüge. In einer Welt, die zunehmend von bewegten und unbewegten, oft aber geschönten Bildern bestimmt und überflutet ist, gerät in Vergessenheit, dass das Schreiben und spätere Lesen eines Textes den Augenblick dehnt, einen zwingt, sich zu verlangsamen, durchzuatmen, abzuwarten und manchmal auch Geduld zu üben.

Unsere Schule ist nach einem Mädchen benannt, dessen Tagebuch eines der wahrscheinlich berühmtesten und meistübersetzten Bücher dieser Welt ist: Annelies Marie, bekannt als Anne Frank. Alle unsere Schüler*innen der Anne-Frank-Schule Karlsruhe kennen die Geschichte dieses Mädchens, das durch das Tagebuch in der Enge seines Verstecks einen Raum für seine Gedanken und Träume fand. Die Jugendliche Anne erlebte in dieser Zeit, die mehr als zwei Jahre dauern sollte, ihre Pubertät, die erste zarte Liebe, Konflikte mit ihren Eltern und den Mitbewohnern. Da die Geschichte hinlänglich bekannt und vielfach in den unterschiedlichsten Medien verarbeitet wurde, möchte ich hier gar nicht näher darauf eingehen. Wir alle wissen, dass sie schrecklich endete. Das Tagebuch dokumentiert eindrücklich, dass hinter unfassbar großen Zahlen des Schreckens Menschen mit Geschichten, Träumen und Gedanken stehen. Menschen mit Familien. Menschen, die liebten, hofften und verzweifelten.
Es ist wichtig, das nie zu vergessen.
Auch aus diesem Anliegen heraus ist unsere Schule 2017 Mitglied des Netzwerkes „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ geworden. Eigentlich hätten wir uns am Dienstag der vergangenen Woche mit vielen anderen Netzwerkschulen der Stadt anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Netzwerkes auf dem Karlsruher Marktplatz getroffen, um daran zu erinnern, dass Mobbing, Intoleranz und Ausgrenzung an unserer Schule keinen Platz haben. Wir kümmern uns umeinander und gehen wertschätzend miteinander um. Deshalb sind wir auch Gemeinschaftsschule, eine Schule für alle Kinder und Jugendlichen. Wir leben und lernen gemeinsam. Dass dieser Geist Früchte trägt, zeigt sich für uns im Umgang der Schüler*innen miteinander und mit uns. Sie helfen einander. Sie erkundigen sich nach uns und anderen, die fehlen, wollen wissen, wie es ihnen und uns geht.

Einige Schüler*innen treffen sich derzeit täglich um 17 Uhr mit mir noch einmal in einer Videokonferenz. Es ist ein freiwilliges Angebot. Manchmal geht es darum, letzte Fragen zu klären, oft nutzen sie diese Zeit aber auch, um noch einmal mit mir in den Austausch gehen zu können, gelegentlich erzähle ich ihnen einfach irgendetwas und sie hören zu. Heute habe ich ihnen und mir selbst folgende Frage gestellt: „Stellt euch vor, ich hätte euch letztes Jahr um diese Zeit erzählt, dass heute in einem Jahr die Schule geschlossen sein würde und ihr statt im Klassenzimmer zu Hause vor dem Smartphone oder dem PC den Deutschunterricht verfolgen würdet, wer von euch hätte mir das geglaubt?“

Ich hoffe und wünsche mir, dass manche unserer Schüler*innen die Einladung zum Schreiben annehmen und den Mut und die Geduld aufbringen werden, diese Zeit für sich zu dokumentieren.

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