Bildungsweise

Susanne Posselt

Teilhabe

Teilhabe. An etwas Anteil haben. Teil von etwas sein. Etwas abhaben. Etwas von dem haben, was andere auch haben. Dazugehören. Nicht ausgeschlossen sein.

In diesen Tagen wird in vielerlei Hinsicht sichtbar, wie es um die Teilhabe an Bildung hierzulande bestellt ist. Die Schulen sind seit nunmehr einer Woche geschlossen. Schulisches Lernen, strukturiert und portioniert, begleitet und aufbereitet, elementarisiert und didaktisiert, findet nicht mehr dort statt, wo es eigentlich seinen Ort hat: Im Klassenzimmer.

Nun mögen Kritiker sagen, dass Schule ohnehin mit Bildung nicht so viel zu tun habe. Bildung sei schließlich ein eigenaktiver Prozess, der lebenslang erfolge und sich ausschließlich im Individuum selbst ereigne. Möglicherweise verhindere die Schule in mancher Hinsicht sogar echte Bildungsprozesse, weil das überholte Wissen von gestern für eine Welt von morgen häppchenweise verabreicht werde.

Angesichts verzweifelter Eltern, die in diesen Tagen ihre Kinder bei der Bearbeitung der eilig zusammengeschnürten Aufgabenpakete unterstützen und mangels ausgereifter Lernplattformen dutzende E-Mails sichten und sortieren müssen, um ihren Kindern schulische Arbeitsaufträge überhaupt zugänglich machen zu können, mag man tatsächlich manchmal daran zweifeln, ob auf diese Weise irgendeine Art von Bildung erreicht werden kann. In einer Situation, die für viele Familien ohnehin schon höchst belastend ist, sollen Eltern im Homeoffice zeitgleich Hilfslehrer spielen, ein gesundes Mittagessen auf den Tisch bringen und jederzeit per Telefonkonferenz für ihren Chef ansprechbar sein. Viele Familien haben Existenzsorgen, weil sie nicht wissen, ob ihnen ihr Arbeitsplatz und ihr Einkommen erhalten bleibt und ob sie morgen überhaupt noch über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen, um ihren Kindern ein gesundes Mittagessen auf den Tisch stellen zu können.

Es ist eine Ausnahmesituation für alle Seiten. Kolleg*innen haben Anforderungen für zu erreichende Abschlüsse im Blick und versuchen, auf oft kreative Weise, das aufzufangen, was durch die geschlossene Schule fehlt: Der direkte Kontakt zu den Schüler*innen. Denn nicht erst seit gestern weiß man, dass einer der wichtigsten Faktoren für eine nachhaltige Bildung eine wertschätzende Schüler-Lehrer-Beziehung ist. So tun die Lehrer*innen alles, um jene aufrechtzuerhalten: Sie telefonieren regelmäßig allen Eltern und Schülern hinterher, erproben sich in digitalen Lern- und Kommunikationsplattformen, eröffnen Twitterkanäle, produzieren Erklärvideos und sind stets auf der Suche nach Möglichkeiten, ihre Schüler*innen zu erreichen.

Leider gewinnt man den Eindruck, dass bei all dieser aus der Not geborenen positiven Aufbruchstimmung in Vergessenheit gerät, dass viele Familien überhaupt nicht über die erforderliche digitale Infrastruktur verfügen, um ihren Kindern die gutgemeinten Angebote ihrer Lehrer*innen zugänglich machen zu können. Es gibt keinen PC und keinen Drucker , vielleicht gerade einmal ein Smartphone, wobei nicht jedes Elternteil weiß, wie man eine E-Mail schreibt. Es fehlt die Möglichkeit, all die Erklärvideos und interaktiven Aufgaben zu sichten und zu bearbeiten, sowie Arbeitsaufträge und -ergebnisse auszudrucken. Und man kann keinesfalls erwarten, dass Eltern in dieser Situation über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen, diese Geräte anzuschaffen und den, falls vorhandenen, Drucker ständig mit neuem Toner zu füttern, wenn die Sorge um die eigene Existenz all das in den Hintergrund rücken lässt.

Wenn wir also wollen, dass unsere Schüler*innen diese zweifellos hilfreichen Möglichkeiten jetzt und in Zukunft nutzen können, müssen wir ihnen auch die dafür notwendigen Geräte und Zugänge zur Verfügung stellen. In Baden-Württemberg gibt es eine gesetzlich verankerte Lernmittelfreiheit. Es wäre daher nur konsequent, die Schüler*innen flächendeckend mit digitalen Endgeräten auszustatten, die auch mit nach Hause genommen werden können. Nehmen wir dieses Problem nicht ernst, ist tatsächlich zu befürchten, dass das eintritt, was die TAZ dieser Tage prophezeit: Dass Bildung ungleicher wird.

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1 Kommentar

  1. Helga Dienstag, 24. März 2020

    Sehr gut geschrieben, ich erlebe es im Alltag oft, dass Eltern schon bei Grundschulkindern an den Hausaufgaben scheitern und nicht ohne Grund ist die Zahl der Kinder im Grundschulalter, die regelmäßig Nachhilfe bekommen, in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen.
    Nun kommt es also dazu, dass Eltern ihren Sprösslingen nicht nur bei den Hausaufgaben helfen müssen, sondern als Hilfslehrer neuen Lernstoff ans Kind bringen sollen.
    Das neben Homeoffice und Haushalt.
    Wie oft habe ich in den letzten Monaten den Spruch gehört “ Grundschule kann jeder“. Jetzt zeigt es sich, dass Grundschule eben nicht jeder kann und dass der Job der Grundschullehrerin, Hausaufgabenbetreuerin oder Teilhabeassistenz mehr ist, als Zeit im Klassenraum zu verbringen.

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