Bildungsweise

Susanne Posselt

Nicht in die Schultüte gelegt – Historisches Lernen zu Diskriminierung und Kinderrechten

Ihr kennt das. Grundschule. Im Sachunterricht geht es um „früher“. Die Kinder nehmen die Aufgabe mit nach Hause, Nachbarn, Großeltern oder wen auch immer zum Erzählen anzuregen. Danach sitzen zwei Jungs vor der Klasse. Sie haben zusammen einen Nachbarn befragt. Er hat ihnen von der NS-Zeit erzählt und auch von der Ermordung von 6 Millionen Juden. Einige meiner DrittklässlerInnen nicken. Andere sind tief betroffen und hören zum ersten Mal so explizit darüber. Ich erzähle den Kindern von Anne Franks Tagebuch, das sie sicher in einigen Jahren in der Schule kennenlernen werden. 

Fast forward… Klassenrat. Was wollen wir mit der Projektwoche anfangen? Dieses Jahr findet sie klassenintern statt. Ein Kind schlägt vor, Anne Franks Tagebuch zu lesen. Die Klasse stimmt ab und die große Mehrheit ist dafür, sich mit der NS-Zeit zu beschäftigen. Ich erkläre, dass das Buch von einem jugendlichen Mädchen geschrieben wurde und für uns noch nicht ganz das richtige, ich mich aber darum kümmern werde, dass wir dieses Thema bearbeiten.

Recherche. Ich lande beim Anne-Frank-Zentrum in Berlin-Mitte. Ein Anruf ergibt, dass gerade ein Material für Grundschulkinder herauskommt: „Nicht in die Schultüte gelegt.“

Darin geht es um die Diskriminierungs- und Verfolgungserfahrungen von jüdischen Kindern in der Zeit des Nationalsozialismus. Biografisch, mit kurzen Texten und Bildern auf je einer DIN A5 Karte. Ich lasse mir das Material schicken, zeige es den Kindern. Sie sind einverstanden.

In der Projektwoche nehmen sich die Kinder in Kleingruppen je ein Kinderschicksal vor. Sie recherchieren und sie bereiten eine Ausstellung vor für unser Schulfest der Grund- und  weiterführenden Schule. Jede Gruppe gestaltet einen Tisch über „ihr“ Kind. Die Kinder schreiben Texte, drucken Bilder aus. Sie sammeln Dinge, um ihre Ausstellung lebendiger zu gestalten. Eine alte, selbstgenähte Puppe, ein kleiner, alter Kinderkoffer. Sie malen Judensterne und Fahrscheine für die Flucht ins Exil. 

Am dritten Tag nehmen wir uns die zehn Grundrechte aus der UN-Kinderrechtskonvention vor. Die Kinder halten sie gegen das Schicksal ihres Kindes und reflektieren ihr eigenes Glück. Sie beschließen, eine Leine quer durchs Klassenzimmer zu spannen und die Grundrechte groß auf Plakate zu schreiben. Andere gestalten eine kleine Timeline durch die Zeit des Nationalsozialismus. Was war 1933, was 1938, was 1945? 

Das Schulfest kommt und geht. Der Schulleiter spricht von einem mutigen Projekt. Einige Erwachsene finden es befremdlich, zu schwer, zu früh. Andere geben Zuspruch. 

Monate später. An der Wand unserer Grundschule tauchen Hakenkreuze auf. Die Kinder sind empört. Ein lernbehindertes Mädchen wird beschimpft. Das darf nicht sein! Im Klassenrat wird beraten, was zu tun ist. Einige Kinder werden bestimmt, die zur Schulleitung gehen sollen. Die Kinder fordern das Übermalen der Schmierereien und Symbole. Sie bieten an, das selbst zu übernehmen. Nein, das sei Aufgabe der Gemeinde, erfahren sie. Man werde sich kümmern.

Eine Weile tut sich nichts. Die Kinder beschließen, sich an den Bürgermeister zu wenden. Sie schreiben einen Brief. Alle unterzeichnen. Zwei Kinder werfen ihn im Rathaus ein. 

Kurze Zeit später wird die Wand übermalt. 

Ich bin jetzt Schulleiterin und habe selbst keine Klasse und keinen Klassenrat mehr. Aber ich würde das immer wieder so machen. Das Interesse der Kinder war handlungsleitend. Sie haben so viel gelernt, an Haltung, an Methoden, an Kommunikation. Man muss da eigentlich nur mitgehen, Impulse setzen, unterstützen und dann geschehen die wesentlichen Dinge. Der Anlass wird immer individuell sein, aber die Anlässe finden sich. Man muss sich nur die Zeit für sie nehmen und wollen. Glaube ich.

Esther Delatrée

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