Bildungsweise

Susanne Posselt

Grundsätzliches

Gedanken zu Werten und Menschlichkeit

Ich habe im Moment viel Zeit, um nachzudenken. Weil ich mich nicht so gut über längere Zeit konzentrieren kann, lese ich viele Nachrichten, kürzere Texte, und ja, natürlich auch Social Media. Ich scrolle durch die Storys. Ich sehe, was meine Bubble beschäftigt. Um nicht zu sehr in der Filterblase festzuhängen, habe ich außerdem einige Nachrichtenmagazine als Onlineausgabe abonniert: Zeit, Spiegel, Süddeutsche. Ja. Ich bezahle für seriösen und gründlich recherchierten Journalismus. Das ist es mir wert. Zum Glück kann ich es mir leisten. Und ich will es mir leisten. 

Derzeit geht ein unappetitliches, unanständiges – ein würdeloses – Video aus einem hippen Club für betuchte junge Leute auf Sylt viral. Meine Gedanken dazu schwanken zwischen: Echt jetzt? Und: Echt jetzt! Ich meine: Wundert uns das, was wir da sehen, wirklich? Ich wundere mich nicht. 

Es entspricht dem, was ich jeden Tag erlebe. Seit mehr als zehn Jahren arbeite ich in Schulen, die den Querschnitt der Gesellschaft abbilden. Gleichzeitig bewege ich mich in sehr verschiedenartigen kulturellen Kreisen. Die Unterschiede in Habitus und Haltung zwischen Hundeverein, Schulwelt, Bildungsgewerkschaft und einem sehr traditionell-klassischen Chor im hochgebildet-christlichen Umfeld könnten größer nicht sein. Die Reaktionen, die ich erhalte, wenn ich hier oder da von wahrgenommen Lebenswirklichkeiten im schulischen Umfeld berichte, sind schon immer ambivalent. Sie reichen von: „Also, ich würde mein eigenes Kind ja nicht an eine solche Schule schicken.“ bis hin zu: „Toll, dass du das machst.“ Gefolgt von: „Ich könnte das ja nicht.“ Manchmal frage ich mich, ob die Leute sich eigentlich selbst zuhören?

Mir geht das alles zu schnell. Diese Aufregungskaskaden. Kürzlich haben wir noch 75 Jahre Grundgesetz gefeiert und in meiner Timeline bei Insta waren lauter Auszüge aus den ersten Artikeln des Grundgesetzes. Von Würde war da die Rede. Von Gleichheit.

Kurze Zeit später waren Videos in meiner Timeline, auf denen geifernde, höchstwahrscheinlich durch Alkohol enthemmte junge Menschen zu sehen waren, die irgendwas von „Raus hier“ faseln. Sie skandieren das, wovor sie möglicherweise Angst haben: Dass man ihnen ihren völlig unverdienten Wohlstand, den sie gerade gedankenlos verpulvern, streitig machen könnte. (Es ist ein Erklärungsversuch – Natürlich ist es keine Entschuldigung für ein nicht akzeptables und absolut unanständiges Verhalten!)

Aber Leute! Es ist doch etwas, was wir jeden Tag überall sehen können, wenn wir es sehen wollen! Es ist doch nicht der Rassismus allein, der sich hier auf ekelhafte Weise zeigt. Es ist der Wahn vom „Recht“ auf Privilegien. Eigentlich ist es Klassismus. Wer will schon gerne daran erinnert werden, dass hierzulande viele Hundertausende Menschen in prekären Jobs unsere Alten pflegen, die Straßen flicken und unser Essen servieren? Diese Menschen halten seit Jahrzehnten unser System am Laufen und wir machen uns über sie lustig. Wir denken, wir hätten das Recht dazu, uns über jene zu erheben, die einer Minderheit angehören, die aufgrund von sprachlichen oder kulturellen Barrieren nicht an unserer „Mehrheitsgesellschaft“ teilhaben können. Wir sind überheblich.

Ich weiß. Ich bin eine weiße, privilegierte „Cis-Frau“. Vielleicht sollte ich gar nicht mitreden. Ich habe es geschafft. Ich konnte mich gegen viele Prognosen als Tochter von Eltern aus einem kleinbürgerlichen Arbeiter- und Angestelltenmilieu ins akademische Milieu hocharbeiten. Meine Eltern haben sehr hart dafür gearbeitet, damit es „uns besser geht“. Vielleicht sind mir aber gerade deshalb viele dieser Privilegien besonders bewusst. 

Früher hätte ich mir selbst nicht vorstellen können, dass ausgerechnet ich mal mit Kindern und Jugendlichen arbeite, mit denen es das Schicksal nicht so gut gemeint hat, wie mit mir. Es sind die „anderen“ Kinder. Die, mit denen man seine eigenen Kinder am liebsten nicht gemeinsam in die Schule schicken möchte. Vor denen man sie „bewahren“ möchte. Ich arbeite unter anderem mit sperrigen und pubertierenden sogenannten Hauptschülern. Der Anteil von Kindern mit Migrationsgeschichte in die diesen Klassen liegt oft bei über 80 Prozent. In der Gemeinschaftsschule etikettiert man diese Kinder leider auch gerne als „G-Niveau-Schüler“. Man möchte nicht „zu viele“ von ihnen haben. Es sind die, die augenscheinlich wenig können, nichts haben und sich oft „auffällig“ verhalten. Ich arbeite mit Kindern aus Haushalten, die Transferleistungen beziehen. Mit Kindern, deren Eltern meine Sprache nicht verstehen (und ich deren Sprache nicht). Mit Kindern, die sich dafür schämen, dass ihre Eltern erst am Anfang des neuen Monats das Geld für die Klassenfahrt zusammenkratzen können. Mit Kindern, die ohne gesundes Pausenbrot in die Schule kommen. Die morgens alleine aufstehen müssen, weil die Mama es nach der Nachtschicht nicht schafft. Mit Kindern von psychisch kranken Eltern, die offensichtlich sich selbst überlassen sind. Ich arbeite mit Kindern, die in vielfacher Hinsicht von Ausgrenzung, Vorurteilen und Marginalisierung betroffen sind. Diese Kinder können nichts dafür. Oft bin ich ihre einzige Chance und wenn diese Chance nur darin besteht, dass ich ihnen an ihrem irgendeinem Punkt ihres Lebens – vielleicht im Coaching – gesagt habe: Du kannst dein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Mach dich selbst stark. Trau dir etwas zu. Arbeite dich aus dieser Ohnmacht heraus. Wenn diese Kinder es schaffen, vielleicht anders, als ihre Eltern, Fuß in diesem Leben zu fassen, einer Arbeit nachgehen, vielleicht eine Familie zu gründen, Zutrauen, Liebe und Zuversicht an ihre eigenen Kinder weiterzugeben oder sich gesellschaftlich engagieren, für sich und für andere, dann war meine Arbeit erfolgreich.

Warum tue ich das alles? Und warum spreche ich es aus?

Ich bin aufgewachsen in einem christlichen, kirchlich geprägten Umfeld. Ich habe von klein auf die Überzeugung inhaliert, dass alle Menschen gleich wertvoll sind: Egal, woher sie kommen. Egal, welche Sprache sie sprechen. Egal, welchem Glauben sie folgen. Egal, wie sie aussehen. Im Kindergottesdienst hatten wir „Patenkinder“ auf dem indischen und dem afrikanischen Kontinent, für die wir regelmäßig unser Taschengeld gesammelt haben. Ich weiß es noch wie heute, wie die erwachsenen Gruppenleitungen erzählt haben, wie diese Kinder leben. Mit wie wenig Geld ihre Eltern auskommen müssen, dass Schulbildung Geld kostet, dass Mädchen oft überhaupt nicht zur Schule gehen dürfen. Das Krankheit und Behinderung ein Todesurteil sein können. Mir ist sehr früh klar geworden, dass es auf dieser Welt nicht gerecht zugeht. Ich glaube, mir ist auch sehr früh klar gewesen, dass ich eine Verantwortung trage, etwas dagegen zu unternehmen.

Es geht nicht nur um Rassismus. Es geht um viele Formen der Diskriminierung. Die grundlegende Frage ist: Was denken wir wirklich über den Wert und die Würde von Menschen? Welche Verantwortung wollen wir als Gesellschaft füreinander übernehmen? Wer hat das Recht, auf Kosten anderer zu leben? Was ist Leistung? Und: Denken wir wirklich, es ist hilfreich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, wenn wir die Kinder möglichst früh nach Klassengrenzen trennen und alles absondern, was irgendwie andersartig ist? 

Es geht um Klassismus, um Ableismus, um Ausgrenzung, um Trennung.

Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, in einem Land zu leben, dessen Sprache ich nicht spreche. Ich weiß auch nicht, wie es sich anfühlt, anders auszusehen, als die Mehrheit der Menschen, die mich umgibt. Ich weiß inzwischen noch nicht einmal mehr wirklich, wie es sich anfühlt, jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen, um am Ende des Monats zu merken, dass das Geld schon wieder nicht gereicht hat.

Ich weiß aber, wie es sich anfühlt, einen Sprach-Code, der für Bildung steht, nicht zu verstehen und dagegen anzuarbeiten. Ich weiß, wie es sich anfühlt, als Frau von einer mehrheitlichen Männergruppe belächelt zu werden. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man sich im Gegensatz zur Mehrheit der Klasse keine hochwertige Markenkleidung leisten kann. Ja: Ich weiß, wie Ausgrenzung sich anfühlt. Ich hatte selbst Klassenkameradinnen und -kameraden, die mit Barbour-Jacken und Diesel-Jeans morgens von Mama zur Schule gefahren wurden. Industriellen-Kinder, die dieselbe Schule besucht haben wie ich, weil diese Schule „einen guten Ruf“ hatte und weil sie in kirchlicher Trägerschaft das (unausgesprochene) Versprechen gab, dass der Anteil der Schmuddelkinder nicht allzu groß sein dürfte. Dass diese Industriellen-Kinder irgendwann trotz seinerzeit mehr als mäßiger Schulnoten die Firmen ihrer Eltern geerbt haben und sich heute für die Leistungselite des Landes halten, erstaunt nicht. 

Es ist nicht neu. 

Was mir wichtig ist, und das ist ein Versprechen an mich selbst: Ich trage meine Verantwortung. Und sei es nur im Kleinen. Ich werde nicht schweigen.

Ich werde mich immer wieder selbst hinterfragen, wo ich im Kopf ausgrenze, wo die Grenzen meiner Wahrnehmung sind und wo ich Menschen vorschnell zu Unrecht verurteile. 

Ich wünschte, wir alle könnten nach dieser Prämisse leben.

Ich wünschte, wir alle könnten uns häufiger kritisch hinterfragen, unsere Haltungen, unsere Sprachcodes, unsere Vorurteile. 

Ich wünschte, wir könnten das Menschsein, Mitmenschlichkeit und Fürsorge als die Werte erkennen, die unser Gemeinwesen zusammenhalten.

In diesen Tagen kam mir einmal mehr die berühmte Rede von Martin Luther King mit ihrer bedrückenden Aktualität in den Sinn. Ich möchte sie hier teilen: 

Ein Abschnitt ist mir besonders wichtig: 

„But there is something that I must say to my people, who stand on the warm threshold which leads into the palace of justice: In the process of gaining our rightful place, we must not be guilty of wrongful deeds. Let us not seek to satisfy our thirst for freedom by drinking from the cup of bitterness and hatred. We must forever conduct our struggle on the high plane of dignity and discipline. We must not allow our creative protest to degenerate into physical violence. Again and again, we must rise to the majestic heights of meeting physical force with soul force.“

Quelle mit deutscher Übersetzung

Soul Force – Seelenkraft. 

Lasst uns Hass nicht mit Hass entgegentreten. 

Dignity and Discipline – Würde und Disziplin.

Lasst uns gemeinsam zeigen, dass es eine vernünftige, würdevolle und anständige Art und Weise gibt, dem Hass und der Destruktion entgegenzutreten.

Am Ende sind wir alle gleich.

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2 Kommentare

  1. H.Giese Sonntag, 26. Mai 2024

    Danke Susanne!!! Ich unterstreiche jedes einzelne Wort!❤️

  2. Claudia Sobotta Sonntag, 26. Mai 2024

    Du sprichst mir aus der Seele: Ich kann all deine Erfahrungen teilen!

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