Bildungsweise

Susanne Posselt

Tag der deutschen Einheit

3. Oktober. Der Tag der deutschen Einheit. 

Ich habe letzte Woche in meiner Kunst-Lerngruppe beiläufig erwähnt, dass ich so alt bin, dass ich mich noch an „die Mauer“ – das geteilte Deutschland – erinnern kann. Daraus ergab sich ein Gespräch, aus dem ich als Erkenntnis mitnehme, dass dieses geteilte Deutschland für Jugendliche ein ziemlich abstraktes Gebilde zu sein scheint. 

1989 war ich 14 Jahre alt. Das letzte Bild der Galerie unten zeigt mich im Frühjahr 1989 anlässlich meiner Konfirmation. Ich war so alt wie die Jugendlichen, die mir heute in der Schule begegnen. Die Welt war eine andere. Meine westdeutsche Welt bestand aus einem Leben in einem ziemlich großen Einfamilienhaus mit Garten und dem Haus der Großeltern direkt gegenüber, aus meinem evangelischen Gymnasium, für dessen Besuch ich einen weiten Weg zu Fuß und mit dem Bus auf mich nahm und aus dem sonntäglichen Leben in der Kirchengemeinde, in der meine Eltern sich engagierten. Ich bin in einem behüteten evangelischen Elternhaus aufgewachsen. Auch, wenn das mit dem Einfamilienhaus vielleicht nicht danach klingt, Geld hatten wir nicht viel. Meine Eltern hatten kein Abitur und sie haben hart gearbeitet, um den Kredit für dieses Haus abzahlen zu können. Das Telefon hatte eine lange Schnur, die fest in der Wand installiert war. Meine Schwester und ich mussten die Minuten aufschreiben, die wir telefonierten. Denn jede Minute zählte und das Telefonieren war teuer. Einen Computer gab es nur im Büro meines Vaters. Er hatte einen grün flimmernden Röhrenmonitor, der kryptische Zahlen zeigte. Nach der Arbeit brachte mein Vater riesige silberne Behälter mit Filmrollen zur Sparkasse und legte sie dort in ein Schließfach. Auf diesen Filmrollen waren die Computerdaten der Firma gespeichert. Es gab keine Handys, kein Internet und natürlich auch noch keine Cloud, in der man irgendwelche Datenmengen hätte speichern können. Ich ging sonntags in den Kindergottesdienst und mit 12 Jahren in den kirchlichen Unterricht. Nach dem Abschluss dieses zwei Jahre dauernden Unterrichts wurde ich feierlich konfirmiert und engagierte mich danach als Mitarbeiterin im Kindergottesdienst. Deutschland bestand aus zwei Teilen. Der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Ich kannte diese DDR nur aus den Erzählungen meiner Großtante, der Schwester meiner Oma, die uns alle paar Jahre besuchte. Sie lebte „drüben“ (so nannte meine Oma diesen Ort immer) und brachte uns jedes Mal weiße Taschentücher mit Häkelspitze als Geschenk mit. Tante Erna, so hieß sie, war alt, trug die Haare zum Dutt zusammengesteckt und hatte immer seltsam altmodische Kleidung an. Ihre Söhne und ihre Enkel durften nie mitkommen. Wir kannten sie nicht. Das war so und wir stellten es nie in Frage.

Im Sommer 1989 kam ich in die 9. Klasse. Meine schulischen Leistungen waren zu dieser Zeit eher mittelmäßig, die Pubertät hatte mich fest im Griff. Ich war zum ersten Mal unglücklich verliebt (er weiß bis heute nichts davon) und ich begann, mich für politische Fragen zu interessieren. Im Herbst 1989 tauchten erstmals Mitschüler*innen in unserer Schule auf, die aus dem „anderen Deutschland“, der DDR kamen. Wir begegneten ihnen neugierig aufgeschlossen. Sie waren auf abenteuerlichen Wegen über Ungarn ausgereist und wir konnten ihre Geschichten kaum glauben. 

Im November 1989 änderte sich plötzlich alles. Es geschah, was wir in unserer Vorstellung nie für möglich gehalten hatten. Ein Deutschland ohne Grenze und ein Berlin ohne Mauer kannte ich nur aus den Erzählungen meiner Oma. Die Mauer war gefallen. Nun standen meine ostdeutschen Großcousins samt Familie plötzlich vor der Tür. Im Herbst 1990, ich war inzwischen in der 10. Klasse, fuhren wir auf Klassenfahrt nach Berlin. Wir liefen durch das gerade erst wieder zugängliche Brandenburger Tor hindurch. Ich erinnere mich an die seltsam unterschiedliche Stimmung in den beiden Berliner Stadtteilen. In Westberlin war es bunt und laut. Auch in Ostberlin waren die Straßen breit und die Gebäude groß. Aber es gab überhaupt keine Werbung, keine Leuchtreklame. Alles war grau uns farblos. 

Heute, 36 Jahre nach diesem Ereignis, besteht der Großteil des Kollegiums meiner Schule aus Menschen, die nach 1989 geboren wurden. Sie kennen nur ein geeintes Deutschland. Ein geteiltes Berlin mit Mauer spielt nur noch auf den Klassenfahrten der heutigen Zehntklässler eine Rolle. Ich war im Mai nach langer Zeit wieder einmal in Berlin. Mauerreste muss man suchen. Man erkennt kaum noch, dass diese Stadt einmal in zwei Hälften geteilt war.

Ich frage mich heute: Was ist das eigentlich, diese Deutsche Einheit? Und sind wir wirklich eins? Erleben wir uns als Gemeinschaft mit geteilten Werten und ähnlichen Zielen?

In der Bildungspolitik erlebe ich dieses Deutschland nicht wirklich als Einheit. Die Uneinigkeit teilt sich hier aber nicht in West und Ost. Vielmehr wirkt es oft so, als würden quer durch die Republik Landesfürsten allein über die Ausrichtung ihres Bildungssystems entscheiden. Und alle entscheiden sich anders. Jede Einigung, und seien es nur gemeinsame Standards für das Abitur oder die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen muss mühsam errungen werden.

In anderen Bereichen bin ich mir nicht so sicher. Bei manchen gesellschaftlichen Problemen scheint die Mauer eher in unseren Köpfen zu existieren. Sie existiert zwischen arm und reich. Sie trennt nach Herkunft, nach Sprache, nach Bildung. Dabei sind wir in einem alle gleich: Wir sind Menschen.

Es wird in den letzten Wochen und Monaten viel über Demokratie und Demokratiebildung gesprochen. Wenn Wahlen anstehen, spürt man ein kollektives Luftanhalten. Ich bin inzwischen davon überzeugt: Demokratisch handeln kann nur, wer sich wahrnimmt, kennt und wertschätzt. Unsere größte Aufgabe ist es, unsere Menschlichkeit nicht zu verlieren. Uns zuzuhören. Und verschiedene Lebenswelten zu respektieren. Nur dann kann unser Gemeinwesen auch krisenhafte Zeiten überstehen. Ich hoffe sehr, dass uns das gelingt.

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