Bildungsweise

Susanne Posselt

Abschalten

Gedanken zur inneren und äußeren Ordnung

Ich weiß nicht, ob es in anderen Berufen auch so ist, aber seit ich Lehrerin bin – und auch jetzt als Konrektorin – geht es mir am Anfang der Sommerferien immer so: Ich freue mich riesig auf die Zeit ohne Terminstress, ohne ständig von Menschen umgeben zu sein und ohne dauerhaft auf Hochtouren fahren zu müssen. 

Dann sind sie endlich da: Die Sommerferien.

Und ich? 

Bin unruhig. Orientierungslos. Plötzlich ist mein taktgebender äußerer Rhythmus weg. 

Jeden Morgen in die Schule fahren? Nicht notwendig. Es ist niemand da. In meinem Fall ist die Schule ohnehin geschlossen und ich treffe höchstens den Hausmeister. E-Mails lesen? Ich blicke in leere Postfächer. Nur ein paar späte Sommergrüße flattern hin und wieder in die Timeline.

Ich behelfe mir, indem ich versuche, mich selbst aus der Orientierungslosigkeit zu befreien, indem ich aufräume. Sortiere. Wegwerfe. Neu ordne. Ich schaffe mir eine eigene Struktur in der Strukturlosigkeit. 

Ich weiß genau: Diese Phasen sind notwendig und wichtig. 

Ich kann nicht von jetzt auf nachher alles stehen und liegen lassen. Ich muss langsam herunterfahren. Zur Besinnung kommen. Nachdenken. Reflektieren. Was lief gut? Wo brauche ich neue Ideen? Diese Zeiten der Strukturlosigkeit sind wichtig und hilfreich für mich, um selbst wieder eine eigene innere Ordnung aufbauen zu können. Ich kann sie mir leisten, weil ich keine Erziehungsverantwortung für eigene Kinder mehr trage. Ich muss kein Ferienprogramm mehr organisieren und keinen Großfamilienhaushalt versorgen. Dennoch: Ich muss mir dabei immer wieder klarmachen: Auch diese Phasen gehört zu meiner Arbeit dazu. Wenn ich meine Arbeitsmaterialien im Büro und im heimischen Arbeitszimmer sichte, sortiere und aufräume, ist das: Arbeit. Wenn ich über meinen Unterricht, Schulentwicklung und die Organisation innerhalb der Schulleitung und des Kollegiums nachdenke, ist das: Arbeit. Wenn ich neue digitale Ordnerstrukturen für meine dienstlichen Belange aufbaue, die virtuellen Tiefen meines Rechners sichte, lösche, verschiebe und umsortiere, ist das: Arbeit.

Was bedeuten diese Erkenntnisse für meine Arbeit als Lehrerin und Konrektorin? Seit den Metaanalysen von John Hattie wissen wir: Lehrerinnen und Lehrer, die gezielt metakognitive Strategien (über das eigene Lernen nachdenken!), Problemlöseverfahren und Transfermethoden vermitteln, fördern nachhaltiges Lernen. In der Praxis bedeutet das: Es ist wichtig Lernende anzuregen, ihr eigenes Denken zu beobachten und Strategien für Problemlösen sowie zum selbständigen Lernen einzuüben. Und: Wir vergessen oft, dass dem geordneten Denken eine geordnete Umgebung vorausgehen muss. All das braucht Zeit und Strategien.

Es bedeutet aber auch: Wir brauchen dringend mehr solcher Phasen im im Alltag – in der Familie, aber auch im Schulalltag. Damit auch Kinder und Jugendliche lernen: Manchmal ist es Zeit, innezuhalten. Stille und Leere auszuhalten. Den Arbeitsplatz und die eigenen Dinge aufzuräumen. Gedanken zu sortieren. Zu sich selbst und einer eigenen, inneren Ordnung zurückzufinden. Darüber nachzudenken und darüber zu schreiben, ist oft hilfreich. Tatsächlich baue ich solche Phasen schon lange immer wieder in meinen Unterricht ein. Als ich Lerngruppenleitung war, haben wir regelmäßig Phasen des Ordens und Sortierens in den Schulalltag integriert. Schließlich haben wir auch oft über das Lernen selbst nachgedacht. Was hast du Neues gelernt? Was hat dir dabei geholfen? Oft kam dabei die Erkenntnis ans Licht: Ich habe meinen Arbeitsplatz aufgeräumt und dann konnte ich mich erst richtig den Lerngegenständen widmen. Seither bin ich davon überzeugt: Wir sollten die Tätigkeit des Sortierens und Ordnens gezielt auch im Schulalltag üben. Arbeitsblätter nicht einfach unreflektiert abheften, sondern darüber nachdenken, in welche größere Ordnung das Gelernte gehört. 

Wir leben in einer Zeit der ständigen Reizüberflutung. Langeweile? Gibt es nicht. Im Zweifel sorgt das Smartphone für Ablenkung. Wir lassen uns von sinnlosen Inhalten berieseln und Dinge bleiben liegen, um deren Ordnung und Struktur wir uns eigentlich kümmern sollten. 

Ich frage mich: Was bedeuten diese Veränderungen für die Erziehung unserer Kinder? Wer nimmt sich die Zeit, um ihnen zu zeigen, wie man zu sich selbst findet? Eine äußere und innere Ordnung aufbaut? 

Ich fürchte: Wir müssen uns als Erwachsene hier auch selbst kritisch hinterfragen. Wie nutze ich meine eigene Zeit? Wie viel Zeit nehme ich mir wofür? Ist mein Alltag so strukturiert, dass ich mir Zeit für Strukturlosigkeit und anschließendes Sortieren nehme? Wie verbringe ich den Alltag mit meinem Kind? Nehme ich mir Zeit, um mit meinem Kind Dinge zu sortieren? Übe ich diese notwendige Tätigkeit des Ordnens und Strukturierens ein? Und: Halte ich es aus, auf dem Spielplatz neben meinem Kind zu sitzen und einfach zuzuschauen? Meine Gedanken schweifen zu lassen und ihnen Zeit zu geben, sich zu sortieren?

In der Schule beobachten wir eine zunehmende Orientierungs- und Strukturlosigkeit nicht nur der Kinder, auch der Erwachsenen. Zunehmend lesen Eltern keine Elternmitteilungen mehr, immer weniger kümmern sich um die Ordnung in der Schultasche ihrer Kinder oder interessieren sich überhaupt für deren Lernen. Eltern wirken zuweilen überfordert und tauchen dann ab. Manchmal dauert es Wochen, bis sie einer schriftlichen Einladung zum Gespräch in der Schule Folge leisten. Natürlich gibt es zum Glück immer auch noch Eltern, die ihren Kindern ein liebevolles Umfeld bieten und ihre Erziehungsaufgabe sehr ernst nehmen. Aber auch dort sehen wir Erschöpfung auf allen Ebenen. All dies sind Zeichen der Überforderung und des Zeitmangels. Gerade den jungen Eltern wird suggeriert, dass es überhaupt kein Problem sei, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. So hetzen sie zwischen der Kita mit unzuverlässigen Öffnungszeiten, Arztterminen, Kindergeburtstagen und eigenen beruflichen Verpflichtungen hin und her. Es bleibt keine Zeit mehr zum Innehalten. 

Wir sollten und müssen uns als Gesellschaft wieder Zeit nehmen. Uns nicht ablenken lassen von der digitalen Ablenkungsspirale. Gedanken schweifen lassen und Stille aushalten. Für uns. Und für unsere Kinder.

(Geschrieben während der Wartezeit einer Infusionsgabe Immuntherapie.) 

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4 Kommentare

  1. Herr Rau Dienstag, 12. August 2025

    Die Orientierungslosigkeit am Anfang der Ferien kenne ich schon lange nicht mehr. Dass ich „neue digitale Ordnerstrukturen für meine dienstlichen Belange aufbaue“ und so weiter, oh ja, das kenne ich auch sehr gut, und damit verbringe ich um diese Zeit viel Zeit. Das zählt natürlich als Arbeit, eigentlich. Den Schülern und Schülerinnen mehr Zeit zum Sortieren und Ordnen und Strukturieren zu geben: Ja, das ist eine gute Idee, an die ich zu wenig gedacht habe. Das Bedürfnis dazu ist aber vielleicht gar nicht da, und die Fähigkeit – allein schon das Benennen von Dateien und Anlegen von Verzeichnissen (soweit man noch damit arbeitet statt mit Schlagwörtern) – auch nicht.

    • susanneposselt Dienstag, 12. August 2025 — Autor der Seiten

      Ich beobachte mich ja hin und wieder auch selbst beim Ordnen und Sortieren – nicht nur digital, auch ganz analog. Heute habe ich zum Beispiel mein Arbeitszimmer sehr gründlich auf- und umgeräumt. Das dauert. Hinterher fühlt es sich an, als wenn ich eine innere Reinigung durchlaufen hätte. Und ich denke manchmal – insbesondere, wenn ich in den Grundschulklassen an unserer Schule bin – dass viele Kinder riesige Probleme mit diesem Sortieren und Ordnen haben. Meine Hypothese ist: Wir alle leben das nicht mehr in dem Maß vor, wie es vor den Zeiten digitaler Dauerbeschallung üblich war. Ich fürchte auch, es ist zu Hause gar keine Zeit mehr für diese wichtigen Grundkompetenzen vorhanden. Wie soll das auch gehen, wenn zunehmend beide Elternteile mit kleinen Kindern in Vollzeit berufstätig sind? Irgendjemand muss sich die Zeit nehmen.

      • Herr Rau Donnerstag, 14. August 2025

        Wenn man als Hobby etwas sammelt, dann kommt das vielleicht automatisch. Zumindest ich habe früh angefangen, für meine Sammlung Listen zu machen.

        • susanneposselt Montag, 1. September 2025 — Autor der Seiten

          Ich habe in den Ferien meine Eltern besucht und dort meine alte Briefmarkensammlung gefunden. Ich hatte völlig vergessen, dass ich das in meiner Jugend tatsächlich mal intensiv als Hobby betrieben hatte. Briefmarken! Unsere Kinder wissen überhaupt nicht mehr, was das ist! Belustigt musste ich feststellen, dass ich tatsächlich die Marken alphabetisch nach Ländern (und dann nach Themen) sortiert hatte. Ich frage mich gerade, ob in unserer atemlosen Zeit überhaupt noch viel gesammelt wird…?

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