Bildungsweise

Susanne Posselt

Geschichten über Schmerz und Versagen

Der von mir überaus geschätzte Jan-Martin Klinge, Lehrer und Abteilungsleiter an einer Gesamtschule in meiner Heimatstadt Siegen, hat auf seinem Blog „Halbtagsblog“ ein Thema aufgemacht, was auf den ersten Blick kaum in die Erzählungen vom Growth Mindset zu passen scheint, die uns in der pädagogischen Social-Media-Welt derzeit überall begegnen. Es geht um Schmerz. Um Versagen. Wir erzählen nicht gerne über den eigenen Schmerz und erst recht nicht über unser Scheitern. Eigene Unzulänglichkeiten, Fehler und Irrtümer geben wir ungern zu, besonders in der pastellgefärbten Welt der digitalen Selbstdarstellung. Es fühlt sich nicht gut an, negative Gefühle zuzulassen und dann auch noch darüber zu berichten. Diese Geschichten machen verletzlich. In einer Welt, in der Wettbewerb und das ständige Streben nach Erfolg die Maxime sind, möchte man nicht die Person sein, die etwas nicht geschafft hat, eigene Ziele nicht erreicht hat, womöglich sogar aufgrund von Antriebslosigkeit oder Faulheit versagt hat. Erfolgsgeschichten erzählen sich leichter. Sie lassen uns heller leuchten. 

Jan-Martin lässt einen seiner Schüler eine Geschichte vom Versagen erzählen. Eine Geschichte, die wehtut. Die man nicht gerne erzählen möchte. Er besteht darauf, dass diese Geschichte ihren Platz in der Klasse, in der Schule und über seinen Blog im pädagogischen Internet bekommt. 

Die Geschichte ist deshalb wichtig, weil es kein einziges Leben auf dieser Welt gibt, in dem alles nur gut und stets auf Erfolgskurs ist. Im Gegenteil. Vielleicht ist es sogar die wichtigste Aufgabe von Bildung und Erziehung, Kinder auf das Schwierige, das Unangenehme, den Schmerz des Scheiterns und Zeiten der Angst in ihrem Leben vorzubereiten. Denn diese Zeiten werden kommen. Auch für jene, die im System Schule ihren Weg reibungslos und erfolgreich gehen. 

Resilienz nennt man die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen und Krisen zu bewältigen. Sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht aufzugeben. In einer Welt voller Krisen und Unwägbarkeiten gewinnt diese Fähigkeit an Bedeutung. Und bei allem Fortschritt in Medizin und Wissenschaft ist eins gewiss: Unsere Körper sind endlich. Unsere Gefühle überwältigen uns manchmal. Gewalt, sei sie psychisch oder physisch, ist für viele von uns eine tägliche Realität. Bislang ist es der Menschheit nicht gelungen, auf Gewalt stets mit Liebe zu antworten. Konflikte stets friedlich zu lösen. Gefühle der Scham und der Angst lassen sich nicht vermeiden. 

Die große Frage ist also: Was tun, wenn es mich betrifft? 

Ich erzähle auf diesem Blog bewusst von meiner Angst um mein Leben nach meiner Krebsdiagnose. Über meine Wut und meine Scham. Mein Körper ist verwundet. Ich trage Narben. Ich brauche Hilfe. Ich kann nicht mehr alle meine Pläne verwirklichen. Es ist nicht mehr wie vorher. Das hier ist keine Erfolgsgeschichte. Es ist eine Lebensgeschichte. Und ich weiß, dass ich irgendwann sterben werde. Vielleicht am Krebs. Vielleicht an etwas anderem. Manchmal ärgere ich mich über dieses und jenes, manchmal bin ich traurig, manchmal schäme ich mich. Das ist so. Aber ich gebe nicht auf.

Trotz allem bin ich oft fröhlich. Dankbar. Glücklich. Lern- und wissbegierig.

Danke, Jan-Martin für dieses Thema. 

Ich werde den November nutzen, um den Schmerz bewusster zu betrachten. Vielleicht hilft mein Weg euch, euren eigenen Weg zu finden. Denn: Ihr seid nicht allein!

P.S.: Das Beitragsbild zeigt ein Kunstwerk von Rebecca Horn: .T. (Inferno). 1993. Zu sehen in der Kunsthalle Mannheim.

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