Bildungsweise

Susanne Posselt

Eigentlich

Heute ist Dienstag. Dienstag, der 24. März 2020. Mir ist das Zeitgefühl abhanden gekommen. Heute musste ich mehrmals bei mir selbst nachfragen, welchen Tag wir eigentlich haben. Glücklicherweise ist es mir gelungen, diesen planlosen Tagen in meinem schülerlosen Lehrerdasein eine Struktur zu verleihen. Wir haben täglich feste Zeiten für unsere virtuellen Meetings, es gibt ein virtuelles Lehrerzimmer, eine virtuelle Sprechstunde, virtuelle Deutschstunden und am Ende des Tages immer noch virtuelles Lerngruppen-Meeting.

Eigentlich hätte ich heute morgen in den ersten beiden Stunden Religion mit den „Großen“ gehabt, Schülern der 9. und 10. Klasse, die kurz vor der Prüfung stehen. Wir hätten über Sorgen und Befürchtungen hinsichtlich der Prüfung gesprochen und hätten uns ansonsten im Unterricht mit der Entstehung, gegenwärtigen Aufgaben und der Entwicklung von Kirche beschäftigt. Stattdessen ist der Religionsunterricht ausgefallen, konzentrieren wir uns momentan auf das, was scheinbar wichtiger ist: Aufgaben gibt es in den Hauptfächern und im Grunde genommen geht es vor allem darum „dranzubleiben“, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Vielen meiner Schüler*innen ist Kirche ohnehin eher fremd. Und jetzt ist sie sogar mir selbst fremd. „Wo zwei oder drei versammelt sind“ gilt nicht mehr, versammeln darf man sich nur noch mit großem Abstand und höchstens zu zweit. Gottesdienste finden vor leeren Kirchen statt, eine Solosängerin singt einen einsamen Gemeindegesang und eine Kamera überträgt Psalmen, Gebete und mutmachende Worte zu den Menschen nach Hause. Immerhin.

Eigentlich hätten wir in Klasse 7 weiter an unserem sehr bunten und vielfältigen Kunstprojekt gearbeitet. Wir hätten uns mit Selbstdarstellungen von Menschen in unterschiedlichen Zeiten beschäftigt, hätten uns gefragt, warum man über Selfies heutzutage Filter legen muss, damit man glatter und fehlerfreier aussieht, als man eigentlich ist. Stattdessen habe ich zum Zeichenstift gegriffen und die Erzählung illustriert und vertont, die heute Gegenstand unserer virtuellen Deutschstunde war. 17 Teilnehmer*innen verzeichnete unser virtuelles Klassenzimmer heute Vormittag. Manche nehmen regelmäßig an den Zusammenkünften teil. Manche sieht man nie. Manche beteiligen sich rege. Manche schweigen immer. Es ist einfacher, sich hinter stummgeschaltetem Mikro und deaktivierter Kamera zu verstecken. Es ist auch für mich ungewohnt, gegen ein digitales Display zu sprechen, keine direkte, körpersprachliche Reaktion zu erhalten. Dafür, dass es ungewohnt ist, gelingt es noch erstaunlich gut. Und ich bin dankbar, mit meiner Kollegin einen wunderbar inspirierenden Gegenpart in diesen seltsamen Zeiten zu haben. Danke, Katrin!

Eigentlich wären wir nach einer trubeligen Mensamittagspause dem Klima auf den Grund gegangen, hätten die Wolken betrachtet und uns gefragt, warum es gerade zwar herrlich sonnig, aber auch bitter kalt ist, woher der Wind kommt und wann es endlich richtig warm wird. Stattdessen habe ich allein am Esstisch mein belegtes Brötchen verspeist und noch eine Ladung Wäsche in die zwar kalte aber sonnige Frühlingsluft gehängt, bevor ich mich wieder an den Schreibtisch gesetzt und die nächsten Tage geplant, Unterrichtsmaterialien gesichtet und noch verschiedene Telefonate geführt habe.

Eigentlich säße ich jetzt, zu dieser Zeit, mit meiner Tochter im Staatstheater, um mir zum wiederholten Mal die witzige und kurzweilige Faust-Inszenierung anzuschauen, inmitten von Abiturienten, zu deren Pflichtkanon der „Faust“ in diesem Jahr letztmalig gehört. Stattdessen habe ich das Haus am frühen Abend gemeinsam mit meinem ältesten Sohn bloß für eine kurze Frischluftrunde bis zu den Feldern am Ortsrand verlassen und sitze nun hier und bin ein bisschen wehmütig.
Gerne hätte ich mit meiner Tochter einen schönen Theaterabend verbracht.
Gerne hätte ich mit meinen Schülern die Wolken betrachtet.
Gerne wäre ich Begleiterin künstlerischer Prozesse von jungen Menschen gewesen.
Gerne hätte ich mit Jugendlichen über die Kirche der Zukunft nachgedacht.

Was gibt uns Hoffnung?
Wer macht uns Mut?

Eins steht fest: Uns wird in diesen Tagen schmerzlich bewusst, wie sehr wir einander brauchen und wie wichtig unsere sozialen Kontakte sind. Wir müssen uns gegenseitig ermutigen, immer im Bewusstsein, dass diese Durststrecke zu bewältigen ist, indem wir uns nicht vergessen. Füreinander da sind.

Hoffentlich bleibt uns diese Erkenntnis in Erinnerung.

Im virtuellen Klassenzimmer


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