Bildungsweise

Susanne Posselt

Eine Schule ohne Noten

Kann das gelingen?

Es ist Anfang Februar 2022. Eigentlich wollte ich die Rezension zu diesem Buch schon längst geschrieben haben. Aber es ist wie es ist: Den Januar über sitze ich – wie immer um diese Jahreszeit – an meinen Lernentwicklungsberichten. Ich arbeite an einer Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg, wo es keine klassischen Notenzeugnisse gibt. Erst in Klasse neun, wenn es auf die Abschlüsse zugeht, erteilen wir Noten und verteilen Din-A4-Blätter mit Ziffernnoten. Das machen wir seit inzwischen fast 10 Jahren so. Wir nehmen uns Zeit für diese Berichte. Es sind verbale Beschreibungen von Kompetenzen, die die Schüler:innen im Laufe des vergangenen Halbjahres erreicht haben. Das ist nicht immer einfach, oft mühsam und auch nicht unumstritten.

Nun ist 2022 das zweite Jahr einer weltumfassenden Pandemie. Zwei Jahre, die unser Schulsystem auf den Kopf gestellt haben. Vor zwei Jahren hätte sich noch niemand vorstellen können, dass unsere Schulen einmal über längere Zeiträume geschlossen sein würden. Plötzlich wurde sichtbar, wie absurd viele Prüfungsformate in der heutigen Zeit erscheinen. Schülerinnen müssen sich Prüfungen unterziehen, ohne dass sie in den beiden Jahren zuvor auch nur ansatzweise die gleichen Ausgangsbedingungen hatten. Sie werden bewertet, ohne dass jemand fragt, ob diese Bewertungen überhaupt eine Grundlage haben. Während man diese Tatsache in den vergangenen Jahren oft verschwiegen oder nicht zur Kenntnis genommen hat, ist das nach zwei Jahren Pandemie nicht mehr möglich. Die Frage nach der Gerechtigkeit und nach dem Sinn von Bewertungen und Prüfungen wird zunehmend lauter. Aber wie ist das eigentlich in so einer Schule ohne Noten?

Meine Arbeit an einer Gemeinschaftsschule beweist jeden Tag, dass das durchaus gelingen kann. Deshalb habe ich gleich zugesagt, als der Leiter der Schulaufsicht der Evangelischen Schulstiftung in Berlin Brandenburg Björn Nölte via Twitter nach Rezensent:innen für das neue Buch suchte, das er gemeinsam mit dem Schweizer Deutschdidaktiker und Autor Philippe Wampfler zu diesem wichtigen Thema geschrieben hat. Beide sind Mitbegründer des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur e.V., das sich der Entwicklung und Erprobung neuer Prüfungsformate und Formen der Leistungserfassung verschrieben hat.

In neun Kapiteln fächern die beiden Autoren die Diskussion um das Für und Wider von Ziffernnoten auf. Nach der einleitenden These: „Lernen muss nicht bewertet werden“ richten sie den Blick auf Schulformen und Länder, in denen Notenfreiheit längst Realität ist. Dass das auch in deutschsprachigen Raum bereits täglich gelebte Praxis ist, zeigen unzählige Grundschulen und reformpädagogisch orientierte Schulen im Sekundarstufenbereich. Ein kompletter Verzicht auf Noten, wie etwa in Schweden, ist hingegen hierzulande (noch?) Utopie. Notenverzicht setzt einen Wandel im Denken voraus. Dass dies so ist, zeigt die in Baden-Württemberg immer wieder einmal aufkochende Diskussion um die Leistungsbewertung an Gemeinschaftsschulen. Allein durch schwer zu verstehende Lernentwicklungsberichte mit hochsprachlichen Kompetenzformulierungen und einem Ersatz der Ziffernnoten durch Prozentwerte ist es in der Tat nicht getan.

„Lernprozesse brauchen gute Bedingungen, um sich entfalten zu können. Zu diesen Bedingungen gehören Wohlbefinden, Selbstvertrauen, Sinnerfahrung, Kompetenzerleben, Herausforderung, soziale Eingebundenheit, Begleitung durch geschulte Fachpersonen, attraktive Lernumgebungen, Bewusstsein für das eigene Lernen und Feedback. Lernprozesse können aber auch behindert werden: durch Angst, Frustration, Komplikation, Ablenkung, Störung, Verunsicherung der Lernenden.“

Björn Nölte, Philippe Wampfler: Eine Schule ohne Noten. Bern 2021, S. 29

Im Kapitel „Manifest: Rückmeldungen sind wichtiger als Noten“ zeigen Noelte und Wampfler das Dilemma der Noten auf: Lernen als individueller und kontinuierlicher Prozess wird durch Noten erschwert, oft auch beendet und behindert. Der Fokus wird weg vom Prozess hin zum Ergebnis verschoben. Damit geht es am Ende gar nicht mehr um den so wichtigen Weg zum Ziel. Deshalb plädieren die Autoren für dialogische, wertschätzende Rückmeldungen, die den Weg des Lernens in den Blick nehmen.

Aus Sicht der Gemeinschaftsschule kann ich dieses Plädoyer mit großer Überzeugung unterstützen. Wir empfinden insbesondere das Coaching und die individuelle Lernentwicklungsbegleitung als Schlüssel zum Erfolg für eine gelingende Lernreise der jeweiligen Schüler:innen. Hier kann in einem vertrauensvollen Setting auf Augenhöhe der Blick auf den Weg gerichtet werden: Wie lernst du? Was hilft dir? Was behindert dich? Leider ist dieses wichtige Element der Gemeinschaftsschule auch fast ein Jahr nach dem im Koalitionsvertrag verankerten Wahlversprechen der neuen Landesregierung nicht in unserem Deputat verankert. Rückmeldungen brauchen - anders als ein Papier mit Ziffern - Zeit und Raum. Nur, wenn diese Art der Rückmeldung tatsächlich im Schulportfolio verankert und gelebte Praxis ist, verschiebt sich der Fokus vom Produkt hin zum Prozess. 

Im Kapitel „Kritik der Notengebung“ fächern die beiden Autoren verschiedene Aspekte und Dimensionen der Kritikwürdigkeit praktizierter Notengebung auf. Sie beleuchten psychologisch unerwünschte Effekte, indem sie aufzeigen, dass Noten Lernen oft eher verhindern, als dass sie es fördern.
Das Problem der unterschiedlichen Bezugsnormen zeigt, wie wenig reflektiert und transparent deren Anwendung in der Schulpraxis oft zu beobachten ist. Weitere Problemfelder der Notenpraxis sind die historische Entwicklung des Bewertungssystems aus der Testtheorie, psychologische Auswirkungen von Noten auf Motivation und Selbstkompetenz, ihre Scheingenauigkeit, die simulierte Normalverteilung, Fehlerquellen und schließlich die fehlende Berücksichtigung von Bildungshintergründen und eine unzureichende Bewertung kooperativ erbrachter Leistungen

Nach Analyse all dieser Faktoren kann man nur zu dem Fazit kommen: Noten sind scheingenau, ungerecht, unpräzise, sie untergraben Motivation und erschweren Zusammenarbeit.

Doch was ist die Alternative?

An der Gemeinschaftsschule arbeiten wir ohne klassische Noten. Eine formative Leistungsrückmeldung, der Verzicht auf Ziffernzeugnisse und regelmäßige Lernentwicklungsgespräche sollen den Prozess des Lernens in den Fokus rücken. Gleichzeitig wird auf eine summative Bewertung nicht verzichtet, weil Eltern bei Bedarf die Ausweisung einer Note und einen "Leistungsstand" verlangen können. Das Dilemma einer Operationalisierung von hochkomplexen Prozessen wird hier nur unzureichend gelöst, weil auch wir am Ende eine dreigliedrige Niveauzuweisung vornehmen und hiermit Hierarchien schaffen, die Motivation zerstören können. Irgendjemand findet sich immer am unteren Ende wieder. 

Zeitgemäße Prüfungsformate versuchen das Dilemma zwischen tradierter und etablierter Notengebungspraxis und der Notwendigkeit einer neuen Prüfungskultur aufzulösen.
Beim formativen Assessment „Master or Die“ ist es das Ziel, dass am Ende jede:r Teilnehmer:in ein sehr gutes Ergebnis erzielen. Das Format hat einen prozesshaften, dialogischen Charakter.

Auch die weiteren Vorschläge von Nölte und Wampfler auf einem Weg zu einem bewertungsfreien Unterricht nehmen den Prozess in den Blick, der die Kommunikation zwischen den Beteiligten der Lernprozesse und die Reflexion eigener Lernwege beinhaltet.

Die Kultur der Digitalität hat im 21. Jahrhundert zu einer Krise der Zertifikate geführt. Bildungszertifikate können mit dem schnellen Wandel der Arbeitswelt nicht mehr mithalten. Eine Welt die derart dynamisch und komplex ist, erfordert neue Schlüsselkompetenzen:
Die 4K-Kompetenzen, vorgestellt von Andreas Schleicher im Jahr 2010.

  • Kreativität: Neues denken können
  • Kritisches Denken: Selbst denken können
  • Kollaboration: Mit anderen zusammen denken können
  • Kommunikation: Eigenes Denken (mit-)teilen können

Ein zukunftsfähiges Modell von Schule hat bereits Wolfgang Klafki im Jahr 1974 in seinem Aufsatz „Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips in der Erziehung“ entworfen: Eine zeitgemäße Lernkultur muss prozessorientiert, ganzheitlich motivierend und kooperativ angelegt sein.

Konkret umgesetzt werden kann eine solche Lernkultur mit dem Modell des Dialogischen Lernens nach Ruf und Gallin, bei dem ein Dialog zwischen Lernenden und Lehrenden über ein Lerntagebuch entsteht, das der Dokumentation des Lernprozesses dient. Die Lernenden erhalten Feedback zu ihren individuellen Lernprodukten, wobei es darum geht, Qualitäten zu finden, die der Weiterentwicklung dienen können.

Nölte und Wampfler schließen ihren Fächer unterschiedlichster Überlegungen und Schritte zu einer zeitgemäß(er)en Prüfungskultur mit 10 Argumentationshilfen gegen verbreitete Mythen zur Bedeutung von Noten. Man wird sie brauchen. Noten sind derart unumstößlich in unserer Bewertungskultur verankert, dass es uns unmöglich erscheint, auf sie verzichten zu können.

Auch an der Gemeinschaftsschule ist die Notenkultur selbst nach fast 10 Jahren schwer zu überwinden. Noten suggerieren eine Klarheit und Übersichtlichkeit, die angesichts wachsender Komplexität auch für die bewertenden Lehrer:innen einen hohen Grad an Sicherheit vermittelt. Letztlich verhindert aber auch die Form unserer Abschlussprüfungen eine Abkehr von tradierten Bewertungsformen. Denn am Ende werden Schüler:innen mit Prüfungsanforderung zurecht kommen müssen, die weder kollaborativ noch dialogisch angelegt sind. 

Fazit: Wenn man bereits einige Jahre im Feld der alternativen Leistungsbewertung unterwegs ist, kennt man viele Argumente und Modelle. An Felix Winter, den 4K-Kompetenzen und den Schweizer Reformpädagogen Ruf und Gallin kommt man nicht vorbei, wenn man auf der Suche nach einer Ausgestaltung dieser alternativen Modelle ist. Im Mittelteil des Buches fehlte mir zeitweise etwas die Orientierung. Ich wusste nicht mehr genau, worum es eigentlich geht: Schritte zu einer alternativen Prüfungskultur oder doch wieder Argumente für neue Kompetenzen, die es angesichts einer Kultur der Digitalität zu erlangen gilt. Mir fehlt am Ende auch eine Idee und kritischen Reflexion, wie man den Rang des Abiturs, jener Krone jeglicher Schullaufbahn, relativieren könnte. Menschen streben nach diesem Zertifikat, weil es ihnen den Nimbus eines gebildeten Menschen verleihen – ob sie es nun tatsächlich sind oder nicht.

Für alle, die sich orientieren möchten und Argumente wie auch Entgegnungen auf populäre Mythen zur angeblichen Unersetzlichkeit von Noten suchen, sei dieses ansprechend gestaltete und kompakte Büchlein empfohlen.

Danke an Björn Nölte und Philippe Wampfler, die erkannt haben, dass sich in der Krise immer auch eine Chance verbirgt: Altes zu überdenken und Neues zu erproben.

Wann, wenn nicht jetzt?


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