Bildungsweise

Susanne Posselt

Was haben wir gelernt?

Aktuelle Herausforderungen für die Unterrichts- und Schulentwicklung

Am 12. November 2021 referierte Prof. Dr. Benjamin Fauth vom Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) und Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen im Rahmen des Master-Studiengangs MUSE über aktuelle Herausforderungen für die Unterrichts- und Schulentwicklung in Baden-Württemberg. 

Die Corona-Pandemie stellte und stellt die Schulen vor nie gekannte Herausforderungen. Nun sind die Schulen trotz wieder steigender Inzidenzen insbesondere bei den Kindern und Jugendlichen weiterhin geöffnet. Im Rahmen unseres Studiengangs interessiert uns der empirische Blick auf die Effekte der Schulschließungen und Erkenntnisse durch den notgedrungen verstärkten Einsatz von digitalen Medien im Zusammenhang von Schule. 

1. Effekte der Schulschließungen:
„Bildungskatastrophe“ oder „Alles halb so wild“?

Man könnte die Corona-Krise auch als Datenkrise bezeichnen. Es hat sich gezeigt, dass in Deutschland sowohl im Bereich der Epidemiologie als auch im Bildungsmonitoring gute Studien fehlen. Abgesehen von der Tatsache, dass es ohnehin schwierig ist, „Lernrückstände“ zu erfassen, gibt es zwar eine große Menge an Studien, diese haben jedoch eine sehr unterschiedliche Qualität – so hat die Weltbank im Rahmen einer großen Studie etwa Lehrer:innen befragt – es ist aber bislang nicht möglich, belastbare Aussagen zu demUnterricht zu machen. Dennoch wurde dem Distanzunterricht während der coronabedingten Schulschließungen katastrophale Zeugnisse ausgestellt. Aber was weiß man eigentlich bislang?

  • Eine Studie von Wößmann et al. aus dem Jahr 2021 zeigt, dass sich im Fernunterricht die effektive Lernzeit etwa halbiert hat. 
  • Eine niederländische Studie konstatiert „little or no progress whilst learning from home“
  • In Hamburg zeigte Kermit 3 deutliche Leistungsunterschiede nach der zweiten Welle

Meta-Analysen von Hammerstein et al. und Zierer zu den internationalen Studien belegen immerhin eine zentrale Erkenntnis: Es zeigen sich große soziale Disparitäten in Bezug auf die Effekte von Schulschließungen. 


Baden-Württemberg: Lernstand 5

In Baden-Württemberg gibt es eine für alle allgemein bildenden öffentlichen Schulen verpflichtend zu Beginn der 5. Klasse durchgeführte Kompetenzmessung in Deutsch und Mathematik. Ergebnisse aus dem Jahr 2020 erschienen im März 2021:

  • Die ermittelten Lernverluste (Standardabweichung d zwischen 0,03 und 0,09) entsprechen ungefähr Lernverlusten von einem Monat
  • Insgesamt sieht man auch hier, dass bei Kindern aus benachteiligten Verhältnissen größere Verluste zu beobachten sind.

Im Herbst 2021 fanden diese Erhebung erneut statt. Die Ergebnisse werden derzeit skaliert und ausgewertet. Erste Erkenntnisse zeigen ähnliche Ergebnisse wie in der ersten Erhebung. Die Schulen waren hier zwar deutlich länger geschlossen, allerdings scheint der Fernunterricht besser funktioniert zu haben. Die sozialen Disparitäten scheinen sich erneut verschärft zu haben. 

Psycho-soziale Folgen der Pandemie

Neben den Folgen für den Lernerfolg der Schüler:innen dürfen psycho-sozialen Folgen der Pandemie – insbesondere für die Kinder und Jugendlichen – nicht außer Acht gelassen werden. Im Rahmen der COPSY-Studie zeigte sich, dass 71% der Schüler:innen sich durch die coronabedingten Einschränkungen deutlich belastet fühlten, den Fernunterricht erlebten 65% der befragten Jugendlichen im Vergleich zum Präsenzunterricht als anstrengender. Diese Situation verschärfte sich im zweiten Lockdown noch einmal. Auch hier zeigten sich Unterschiede je nach familiärem Hintergrund. 

Offen bleibt die Frage, ob auch eine Zunahme der klinisch relevanten Diagnosen zu verzeichnen ist, wobei es übereinstimmende Presseberichte zu übervollen Kinder- und Jugendpsychiatrien gab. Nicht erst seit Corona zeigen sich all diese Problemlagen. 

Insgesamt kann festgehalten werden: Angesichts von Lernrückständen von ungefähr einem Monat kann von einer „Bildungskatastrophe“ keine Rede sein. Dass sich deutliche Unterschiede bei bestimmten Schülergruppen in bestimmten Bereichen zeigen, überrascht nicht. Auch ohne Schulschließungen ist die große Heterogenität in den Schülerleistungen (mit 20 bis 25% „Students at Risk“) in Baden-Württemberg ein bekanntes Problem. Man sollte daher weniger nach den „Lernverlusten“ fragen, als nach den Bedingungen, unter denen Lernen stattfindet! 

2. Was ist an den Schulen passiert: 
„Corona-Ferien“ oder „Digitalisierungsschub“?

Was ist zum Thema Unterrichtsqualität in einer Zeit ohne Unterricht zu sagen? Natürlich fand „Unterricht“ (als gegenstandsbezogenes, interaktives erzieherisches Setting, für das eine Lehrperson Verantwortung trägt – Klieme 2020) statt! Auch jenseits von COVID ist in den letzten Jahren eine „zeitliche, räumliche und soziale Flexibilisierung von Unterricht“ (Dumont 2019) zu beobachten. 

Unterrichtliche Sicht- und Tiefenstrukturen

Die Betrachtung unterrichtlicher Tiefenstrukturen, die im Hinblick auf den Lernerfolg erklärungsmächtiger sind als einfacher zu erfassende Sichtstrukturen, ist für den Distanzunterricht ebenso relevant wie für den Präsenzunterricht. Mit Tiefenstrukturen sind unterrichtliche Interaktionsprozesse gemeint, die nicht auf den ersten Blick zugänglich sind. Hier geht es eher um die Frage, ob eine kognitive Aktivierung stattfindet, die Klasse gut geführt ist und es eine zielgerichtete Unterstützung gibt. Bei der Debatte um Schulschließungen und Rückenwind sollte ein besonderes Augenmerk auf die „Big Three“ der Unterrichtsqualität gelegt werden:

  1. Sind die Aufgaben und Inhalte herausfordernd (kognitiv aktivierend)?
  2. Findet eine konstruktive Unterstützung in Form von „In-Kontakt-bleiben“ und Feedback statt?
  3. Wird die Selbstregulation zur Nutzung von Lernzeit durch eine strukturierte Klassenführung gefördert?

Empirische Befunde zeigen deutliche Effekte der Tiefenstrukturen auf AnstrengungsbereitschaftLernfreude und soziale Eingebundenheit. Umgekehrt zeigte sich ein Fehlen dieser Qualitätsmerkmale auch in den Rückmeldungen der befragten Lernenden. 

„Digitalisierungsschub“?

Das Schulbarometer verzeichnet im Bereich der Digitalisierung positive Entwicklungen von der ersten zur zweiten Schulschließung. Knapp die Hälfte aller Lehrkräfte geben an, dass die gemachten Erfahrungen langfristig zu positiven Veränderungen an ihrer Schule führen werden. 60% setzen digitale Tools auch im Präsenzunterricht häufiger ein. 86% der Schulen verfügen inzwischen über Lernplattformen. 

Laut Schulbarometer nutzten Lehrkräfte digitale Medien zwar zunehmend zum Austausch im Kollegium, für die Aneignung neuer Lerninhalte und auch zum individuellen Austausch mit Schüler:innen, gleichzeitig muss man jedoch feststellen, dass der viel zitierte „Digitalisierungsschub“ eher oberflächlicher Natur war. Schulen sind inzwischen vielfach besser mit Software für Videokonferenzen und Lernplattformen ausgestattet, es gibt digitale Endgeräte für Lehrkräfte und Schüler:innen und auch der Ausbau der Internetanschlüsse hat Fahrt aufgenommen. Betrachtet man den Einsatz digitaler Medien genauer, so muss man zu dem Schluss kommen, dass ein elaborierter und digital vernetzter Unterricht nach dem 
SAMR-Modell in Baden-Württemberg weiterhin die Ausnahme darstellt. 

3. Und jetzt? Wie umgehen mit Lernrückständen und psycho-sozialen Belastungen?

Empirische Befunde zur Unterrichtsqualität zeigen die zentrale Rolle von sozialen Beziehungen und Feedback für schulische Outcomes. Befragungen im Lauf der Pandemie bestätigen diese Befunde aus Perspektive der Schüler:innen, die fehlende Rückmeldung und Unterstützung während der Schulschließung als größtes Problem benannten. Beim „Lernen mit Rückenwind“  sollte das Augenmerk nicht auf kurzfristige Maßnahmen sondern eine wiederholte und systematische Erfassung von Lernständen im Sinne einer Lernverlaufsdiagnostik und formatives Assessment (wiederholte kurze Tests) gerichtet werden. Es muss darum gehen, durch einen diagnostischen Blick Informationen über Lernentwicklungen zu erhalten, um den Schüler:innen wie auch den Lehrkräften Kompetenzerleben zu ermöglichen. 

Was also jetzt?

Wir brauchen Fokussierungen:

  • auf die Schüler:innen, die eine Unterstützung nun am dringendsten benötigen
  • auf Gelenkstellen und Übergänge in der Schullaufbahn, um erfolgreiche An- und Abschlüsse zu ermöglichen: Übergang Grundschule – weiterführende Schule, Abschlussklassen
  • auf Basiskompetenzen, die Grundlagen für alle weiterführenden Inhalte sind. Es kann und darf nicht sein, dass wir weiterhin „Students of Risk“ aus unseren Schulen entlassen.
  • auf Materialien, die wirken: Hier benötigt es dringend zeitliche Ressourcen, um Lehrer:innen Materialien zur Verfügung zu stellen, die gleichermaßen ein formatives Feedback ermöglichen, ihnen aber keine allzu großen zeitlichen Ressourcen abverlangen
  • auf jene Themen, die Schüler:innen bewegen: Hier brauchen wir eine offene Diskussion: Worauf kommt es eigentlich an, wenn es um Qualität in Schule und Unterricht geht? Gute Lehrer:innen sind Expert:innen für individuelle Förderung an den Schulen, weil sie um die Bedeutung einer tragfähigen Beziehung und dem Ernstnehmen der Interessen von Schüler:innen wissen.  


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