Bildungsweise

Susanne Posselt

Kunst statt Stoff

Potenzial statt Fehler. 
Beziehung statt Unterweisung.
Miteinander statt Gegeneinander
#stoffwechseljetzt

Im Advent. 

Im Advent zünden wir Kerzen an, weil wir auf etwas hoffen.
Das Ende der dunklen Jahreszeit, den Frühling, der alles neu macht, Weihnachten. 
Wir hoffen darauf dass es wieder aufwärts geht. 

Deshalb möchte ich über die Hoffnung schreiben. Und über die Kunst.

Hoffnung lässt mich diesen Blogartikel schreiben,
obwohl die Deadline der Blogparade von Bob Blume gestern schon vorbei war. 
Hoffnung lässt mich werben für eine Schulart, die man in Baden-Württemberg gerne belächelt, abqualifiziert, ungläubig bestaunt und im Zweifel nicht ganz ernst nimmt.

Dabei sollte man sie ernst nehmen:

„Dies deutet darauf hin, dass das pädagogische Konzept der Gemeinschaftsschule einigen Schülerinnen und Schülern hilft, ihr schulisches Potenzial auszuschöpfen und den für sie bestmöglichen Abschluss zu erreichen.“

Monatsbericht des Statistischen Landesamtes 10/2022

Dieses Zitat stammt aus einem aktuellen Beitrag des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg, das für gewöhnlich nicht ideologieverblendet urteilt, sondern nackte Zahlen betrachtet, analysiert, auswertet und interpretiert. 

10 Jahre gibt es die Gemeinschaftsschule inzwischen. 

Und ich wundere mich, darüber, dass wir immer noch Beiträge über „Stoff“ schreiben. 
Als ob man die Köpfe der Jugendlichen einfach öffnen und etwas hineinschütten könnte.

Mehr als 300 Schulen arbeiten in Baden-Württemberg gegenwärtig nach einem Konzept, das das Lernen, das Können und nicht „den Stoff“ ins Zentrum schulischer Bemühungen stellt. 
Ich bin inzwischen seit mehr als 8 Jahren an der Gemeinschaftsschule als Lehrerin tätig. Freiwillig. Und mit Begeisterung!

Die Kinder und Jugendlichen an der Gemeinschaftsschule sind so unterschiedlich, dass man mit der Idee von einem Stoff, den es in die Köpfe zu stopfen gilt, nicht weit kommt. Wenn ich sehe, dass Kinder mit anderer Muttersprache den Stoff der Grundschule einfach noch nicht können, aber sehe, dass sie lernen möchten, dann trage ich die Verantwortung, meinen Unterricht so zu organisieren, dass jede*r jederzeit etwas zu tun hat und ich wenigstens zeitweise mit einzelnen Kindern an ihren Problemen, aber auch an ihren Potenzialen arbeiten kann. Ganz individuell.

Ich lerne dabei übrigens auch sehr viel:
Wir vergleichen die Wörter und Satzstrukturen in den verschiedenen Sprachen an und überlegen: Wo gibt es Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? Im Arabischen schreibt man in die andere Richtung, es gibt keine Großbuchstaben. Im Russischen konjugiert man anders als im Rumänischen. Wer Rumänisch oder Italienisch kann, kann sich die Fachbegriffe der Grammatik viel besser merken.
Hier geht es nicht um den Stoff der 7. Klasse. Wie soll ein Jugendlicher, der erst seit 3 Jahren Deutsch spricht, eine Ballade analysieren? Auf Deutsch?! Eine Ballade hören, sie gemeinsam mit anderen erarbeiten und dabei viele seltsame, seltene und sehr unbekannte Wörter klären: Ja, das geht. Ein Video dazu drehen, die Ballade lesen, sie erlesen, vorlesen, vortragen: Das geht auch.

Neulich habe ich einen Vortrag vor den Moderatorinnen der Freiburger Lehrer*innencoachinggruppen gehalten. Es ging darum, diesen Personen, die allesamt approbierte Psychotherapeut*innen und keine Lehrer*innen sind, die gegenwärtige Situation an den Schulen zu vermitteln. Ich habe nichts geschönt. Wir wissen, dass die Herausforderungen in den Schulen in den vergangenen Jahren stetig gestiegen sind. Und dennoch: Am Ende fragte einer der Moderatoren: Gibt es denn irgendetwas, was sich in den letzten Jahren zum Guten verändert hat?

Diese Frage konnte ich spontan bejahen: 
Ich muss in der Gemeinschaftsschule keine Noten im klassischen Sinne geben. Ich kann den Kindern individuelle Rückmeldungen zu ihrem Lernstand und ihren „Baustellen“, aber auch Potenzialen geben. Da die Leistungsrückmeldung an der Gemeinschaftsschule viel weniger formalisiert  und viel mehr auf Kommunikation, Unterstützung und differenzierter Rückmeldung beruht, sind diese Gespräche unglaublich wertvoll und sie führen dazu, dass die Schüler*innen die Verantwortung für sich selbst und ihr eigenes Lernen übernehmen. Und das ist es ja, was wir wollen. 

Wir haben das Coaching fest in unserem Stundenplan verankert. Ich führe regelmäßig Gespräche mit meinen Schüler*innen. Ich kann sie fragen: Was interessiert dich? Was an dem, was du können solltest, fällt die schwer? Hast du eine Idee, warum es dir schwer fällt? Gibt es ein Ziel, das du verfolgst? Hast du schon eine Idee, was du später einmal werden möchtest? Was brauchst du, um dich besser konzentrieren zu können? Was hilft dir, ein Thema zu deinem Eigenen zu machen?
Und dann können wir gemeinsam auf die Kompetenzen schauen, die in den Bildungsplänen verankert sind. Natürlich vereinfache ich das. Und natürlich gibt es Inhalte, die für bestimmte Schulabschlüsse verbindlich sind. 

Es geht eben nicht (nur) um das Auswendiglernen von Stoff.
Es geht darum, ein Ziel vor Augen zu haben und zu wissen, welche Wege dorthin führen können.
Es geht darum, sich Verbündete zu suchen, die einem dabei helfen, ein Ziel zu erreichen.
Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen.
Für sich selbst. Und für andere. 

Stoff. Ich mag dieses Wort in Zusammenhang mit Schule und Lernen nicht. 

Es geht um die Welt. Um Wissen. Und darum, wie alles zusammenhängt. 

P.S.: Und warum Kunst? Ich habe Kunstpädagogik studiert. Im Hauptfach.
Kunst ist eine Art die Welt zu betrachten. Im Konzept der Künstlerischen Bildung ist es auch Kunst, wenn man mit einem kreativ-schaffenden Blick durch die Welt geht und sie durch diesen Blickwinkel verändert, kreativ mit Herausforderungen umgeht und das Andere sieht oder sichtbar macht.

Der Künstlerische Blick verurteilt nicht. Er forscht. Er sucht nach den Potenzialen. Er nimmt den Stoff und eignet ihn sich an, verändert ihn und erschafft etwas Neues aus ihm. Wenn Lehrer*innen mehr Künstler*innen wären, wüssten sie vielleicht, dass der Stoff am Ende immer das ist, was man aus ihm macht.

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