Edublogparade 2024 #4: Ein:e Lehrer:in aus meiner eigenen Schulzeit hat mich nachhaltig beeindruckt, weil…
Vorbemerkung: Eine Reihe von bildungsaffinen Bloggern hat sich zum Ziel gesetzt, 2024 häufiger thematisch gemeinsam zu bloggen. Die Themenvorschläge werden an dieser Stelle gesammelt, alle Beiträge zum aktuellen Thema werden unter dem Beitrag gesammelt. Dies ist der vierte Teil der Blogparade.
Auf dem Bild seht ihr mich an meinem ersten Schultag. [Edit: Falls ihr das Bild nicht sehen könnt, liegt das daran, dass das Internet hier im Krankenhaus den Upload nicht erlaubt. Ich hole das nach, sobald ich wieder zu Hause bin.] Ich sah so aus wie viele Kinder Anfang der Achtzigerjahre. Es gab zwei Schulranzenmodelle in zwei unterschiedlichen Farben, Markenkleidung trugen wir nicht, meine Mutter hatte meinen Rock und den Bolero selbst genäht, die Schultüte hatten wir im Kindergarten gebastelt und die Einschulung war mittwochs. Schule fand nur am Vormittag statt. Ich musste ganz schön weit laufen bis zum Schulbus, und wenn mittwochs Gitarrenunterricht war, fuhr gar kein Bus. Ich musste dann also noch weiter laufen, weil der Gitarrenunterricht bei meiner Musiklehrerin in der Schule stattfand. Eine Art freiwillige AG am Anfang der 80er Jahre. Ich lief auch zum Turnverein, in die Jungschar und donnerstags mit meiner Mutter zum Einkaufen. Meine Eltern hatten ein Auto, das aber meistens mein Vater für den Weg zur Arbeit brauchte. Es gab noch keine Handys, und das Telefon hing an einer Schnur, die nicht besonders lang war. Telefonieren war teuer, man musste deshalb immer auf die Zeit achten, wenn man telefonierte. Meine Eltern hatten wenig Geld, aber ich hatte, soweit ich mich erinnere, eine weitgehend glückliche Kindheit. Auch an mein Gymnasium erinnere ich mich gerne. Ich hatte es mir selbst ausgesucht, es war ein besonderes Gymnasium mit einer besonderen Atmosphäre. Ich nahm dafür einen langen Fahrtweg und weite Fußwege in Kauf.
Warum erzähl ich euch das?
Eigentlich wollte ich endlich meinen Beitrag zur Blog-Parade Nummer 4 schreiben, über eine:n Lehrer:in aus meiner eigenen Schulzeit, der mich nachhaltig beeindruckt hat. Darüber denke ich nun schon seit ungefähr vier Wochen nach.
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich nicht entscheiden kann. Es gibt mehrere Persönlichkeiten unter meinen Lehrer:innen, die mich nachhaltig beeindruckt haben. An viele denke ich noch heute immer wieder einmal mit einem warmen Gefühl im Herzen zurück. Als ich selbst noch Schülerin war, wäre es mir bis zuletzt niemals eingefallen, dass ich eventuell selbst einmal Lehrerin werden könnte. Mein Blick auf diese lange Lebensphase ist also völlig unverstellt. Gleichzeitig ist mir beim Nachdenken bewusst geworden, dass mein Blick auf diese Menschen in ihrer Rolle als meine Lehrer:innen auch sehr viel mit mir zu tun hat, und mit meiner jeweiligen Lebenssituation – damals wie heute.
Ich habe mich entschieden, einige der im Rückblick prägendsten Persönlichkeiten zu beschreiben und das, was ich bis zum heutigen Tag mit ihnen verbinde.
Fräulein Hees und Fräulein Dresler
Diese beiden Damen nenne ich gemeinsam. Das Fräulein als Anrede ist wichtig, da beide aus einer Zeit stammten, als (weibliche!) Lehrerinnen noch unverheiratet sein mussten und man das auch an ihrer Anrede erkennen konnte. Beide waren also alleinstehend und mit Leib und Seele Grundschullehrerinnen. Sie wohnten in verschiedenen Wohnungen im selben Haus und wirkten immer wie eine Art schrulliges Ehepaar.
Fräulein Hees war die Leiterin der Grundschule, die „Direktorin“. Sie hatte graue Locken, sorgfältig frisiert, wie in Beton gegossen. Ich war davon überzeugt, dass sie immer schon alt gewesen sein musste. Und sie lächelte immer.
Fräulein Dresler war vor allem meine Religionslehrerin in den ersten beiden Schuljahren. An den Unterricht erinnere ich mich nicht mehr.
Ich erinnere mich aber – und auch das verband die beiden Fräuleins – an die liebevoll anteilnehmende Freundlichkeit – bei gleichzeitiger Strenge und Klarheit – der beiden. Auch lange nach meiner Grundschulzeit waren beide immer und jederzeit interessiert an meinem Leben und fragten mich oder meine Eltern mit echter Anteilnahme nach meinem Befinden und meinem Weg. Ihr Leben war die Schule und das Leben ihrer „Zöglinge“ (Ein altmodischer Begriff, der sehr gut zu diesen beiden etwas altmodischen Fräuleins passte). Ihr Interesse war ermutigend. Sie leben schon lange nicht mehr. In meiner Erinnerung sind sie als Sinnbild für begeisterte Grundschullehrerinnen jedoch immer noch sehr lebendig.
Exkurs:
Eigentlich gehört an diese Stelle der Geschichte noch ein anderer Erzählstrang, eine andere Perspektive. Meine außerschulische Perspektive. Man muss nämlich wissen, dass sich mein Leben zu Beginn der 80er Jahre streckenweise gar nicht in der Schule und auch nicht zu Hause ereignet hat, sondern in diversen Krankenhäusern.
Ich war nämlich ein krankes Kind.
Vielleicht ist es auch diese – lange in den Hintergrund getretene – Perspektive, die mich so lange hat zögern lassen. Und vielleicht ist es gerade jetzt wichtig, diese Geschichte zu erzählen. Niemand konnte wissen, dass mich dieser Teil der Geschichte mehr als 40 Jahre nach dem Beginn meiner Grundschulzeit als „krankes Kind“ wieder einholen würde. Zum Glück.
Ich war schon als Kleinkind oft krank, hatte mit sehr schmerzhaften, immer fieberhaften Blasenentzündungen zu kämpfen. Bis heute weiß niemand, woher das kam, man weiß jedoch: Das kommt vor.
Allein die Harnwegsinfekte wären mit Antibiotika behandelbar gewesen. Leider kam hinzu, dass es offenbar ein Problem mit meinen Harnleitern gab. Der Urin floss nicht ab, sondern staute sich bis zu den Nieren. In Kombination mit den Harnwegsinfekten war das eine echt gefährliche Sache. Deshalb wurde ich zwischen 1979 und 1988 einige Male operiert. Nach Abschluss der letzten Operation war ich über viele Jahrzehnte hinweg unerschütterlich gesund, habe 4 Kinder geboren und kaum je einen Tag in Studium oder Schule wegen Krankheit verpasst. Ich hielt mich beinahe für unverletzbar. Bis jetzt.
Als ich in den letzten Wochen meine Arztberichte aus dieser Zeit gesichtet und sortiert habe, wurde mir erst wieder bewusst: Ich habe lange Zeiträume meiner Grundschulzeit im Krankenhaus verbracht, habe im Prinzip dort lesen und schreiben gelernt. Wir hatten ein Lesebuch, in dem ein Bär namens „Umi“ vorkam. Ich hatte seit meiner Geburt einen Teddybären, der für mich ab der 1. Klasse „Umi“ war und der mich immer ins Krankenhaus begleitete. Es gibt Fotos von mir, schlafend, kurz nach der OP, mit Umi am Kopfende. Umi sitzt heute noch an meinem Bett.
Auch jetzt ist Umi dabei und begleitet mich auf meinem Weg durch die Chemo. Als meine Kinder mir am vergangenen Wochenende eine riesige Kiste mit Büchern und Süßigkeiten und einen Blumenstrauß für die Zeit der Therapie überreichten, kamen mir nicht nur aufgrund dieser Geste die Tränen. In der Kiste saß ein Teddybär. Ich würde sagen, Umi hat ein Kind bekommen. Es hat nur noch keinen Namen.
In dieser Grundschulzeit mit langen Abwesenheiten waren Menschen wichtig, die meine Situation kannten und mir dennoch zutrauten, gut und erfolgreich lernen zu können. Heute weiß ich, dass man diese Haltung „Growth Mindset“ nennt. Ich bin den Menschen, die mir diese Haltung vermitteln und sie authentisch vorleben konnten, unendlich dankbar. Ich denke, sie trägt mich und meine Haltung als Lehrerin und Mensch bis heute.
Herr Kunz
Meinen Grundschullehrer Herrn Kunz hatte ich in der 3. und 4. Klasse. Er war ungefähr so alt wie meine Eltern, Lehrer auf dem „zweiten Bildungsweg“ (was genau das bedeutete, habe ich nie gefragt) und stets ruhig und gelassen. Meine wichtigste Erinnerung an ihn und seine Arbeit war: Er hat uns im Klassenverband regelmäßig vorgelesen. Die Bedeutung dieses Vorlesens für meine weitere Bildungsbiografie war vermutlich entscheidend und ich bin denke bis heute mit großer Dankbarkeit daran zurück. Bei uns zu Hause gab es nämlich keine Bücher. Viele bekannte Kinderbuchklassiker kenne ich nur durch dieses regelmäßige Vorlesen. An „Momo“, „Ronja Räubertochter“ und „Die Wawuschels mit den grünen Haaren“ erinnere ich mich sehr gut. Herr Kunz hat meine Liebe zum Lesen und zu den Büchern geweckt. Er hat dabei meine manchmal etwas überbordende Begeisterungsfähigkeit mit großer Ruhe und einem Lächeln auf den Lippen begleitet und getragen. An diese Grundschuljahre habe ich warme und gute Erinnerungen. Wir haben uns viel Zeit fürs Wesentliche genommen, es ging um die Basis: Lesen, Schreiben, Rechnen inklusive Mengenlehre und Heimat- und Sachunterricht, der mir bis heute in guter Erinnerung ist. Ich kenne die Eiserfelder Berge, habe Grundkenntnisse im Eisenerzbergbau, weiß, was ein „Hauberg“ ist und habe die Liebe zur nahen Natur bestimmt ein Stück weit aus diesem Sachunterricht. Im Kunstunterricht durften wir malen, haben aber auch gedruckt und gehandarbeitet und ich habe viel Wertschätzung für mein früh erkennbares künstlerisches Talent erfahren. Herr Kunz hat meine Eltern in der für sie schwierigen Entscheidung unterstützt, mir unbedingt das Gymnasium zuzutrauen, auch, wenn er genau wusste, dass meine „Sensibilität“ und hin und wieder auch Impulsivität eine Herausforderung sein würde, an der ich zu wachsen hatte – und gewachsen bin. Danke an Herrn Kunz für diese zwei wertvollen Jahre.
Am Gymnasium
Am Gymnasium waren die ersten Jahre nicht ganz einfach. Heute ist mir klar, dass das auch an meiner nicht-bildungsbürgerlichen Herkunft lag. Ich hatte kein „Bildungskapital“, meinen Eltern war das Gymnasium stets suspekt. In meiner Grundschulzeit hatte ich keine lateinischen Begriffe für die deutsche Grammatik gelernt und ich kannte auch keine griechischen Mythen. Meine Eltern sprachen keine Fremdsprache und konnten mir zu Hause die sogenannte „gymnasiale Bildung“ nicht vorleben. Ich musste mir alles selbst erarbeiten.
Das gelang am leichtesten bei Lehrerinnen und Lehrern, die ihren Beruf völlig ohne Standesdünkel lebten und liebten und mir zutrauten, dass ich mir auch aus eigener Kraft fehlendes Wissen aneignen konnte.
Ich denke gerne an meinen ehemaligen Klassen- und Englischlehrer Herrn Matthey, der immer Geschichten aus seinem Auslandsschuldienst in Eaton erzählte und einen herrlichen britischen Humor adaptiert hatte. Er sorgte bei der Kursfahrt nach Irland am Ende meiner Schulzeit mit Gitarre und Mundharmonika für beste Stimmung.
Mein Deutschlehrer Herr Gudelius ist leider viel zu früh, kurz nach Eintritt in seinen Ruhestand, verstorben. An ihn erinnere ich mich sehr gerne wegen seiner lustigen Geschichten und seinem sehr anschaulichen Deutschunterricht.
Meine Religionslehrerin Frau Hasselbach hat immer ihren halben Hausstand mit in den Unterricht gebracht, um uns die Welt und das Leben zur Zeit der Bibel nahezubringen. Dank ihr, weiß ich, wie eine Papyruspflanze aussieht und wie wichtig es ist, sich Sachverhalte handelnd anzueignen. Wir haben gebastelt, gemalt und gesungen und sie hat viel und anschaulich erzählt. Bei all dem hatte sie immer gute Laune.
Mein Kunstlehrer Herr Künkler hat mich darin bestärkt, das Fach Kunst als Leistungskurs zu wählen und war am Ende sicher mit entscheidend für meine Studienwahl. Ein Typ, mit langen lockigen Haaren, begeistert und begeisterungsfähig.
Meine Mathelehrerin in der Oberstufe, Frau Schmeling, hat mir die Liebe zur Mathematik zurückgegeben und es mir ermöglicht, dass mein Matheabitur viel besser wurde, als ich selbst und viele andere es zu hoffen gewagt hatten. Sie hat mir vor allem gezeigt, wie wichtig es ist, niemals den Glauben daran zu verlieren, dass ich als Mädchen auch Mathematik und Naturwissenschaften verstehen kann. (Über den Lehrer, der mich an dieser Stelle nachhaltig negativ beeindruckt hat, schweige ich hier. Ich möchte niemanden bloßstellen.)
Ich könnte noch einige markante Persönlichkeiten aufzählen, die mich in all ihrer Authentizität und Einzigartigkeit positiv beeindruckt haben.
Sie haben in mir die Liebe zum Lernen erhalten, mich in meiner Wissbegierde unterstützt und vor allem eins: Mir vorgelebt, wie wichtig es ist, als Lehrerpersönlichkeit echt, menschlich und wertschätzend zu sein. Die genannten sind nur exemplarisch. Mir ist wichtig zu sagen, dass die Summe der Menschen, denen es gelingt, junge Menschen so zu begleiten, den Unterschied macht. Sie wirken weit über die Schule hinaus, indem sie als Vorbilder junge Menschen in ihrer Bildsamkeit buchstäblich bilden – oder besser gesagt: Bildung ermöglichen.
Unser Ministerpräsident Kretschmann benutzt gerne das Bild vom Gärtner oder vom Töpfer. Eigentlich müsste mir als Kunstfrau der Töpfer näher sein, der wie ein Bildhauer die Menschen formt. Am Ende denke ich, dass der Gärtner besser zu mir passt. Wachstum braucht gute Bedingungen. Danke an all die Lehrerinnen und Lehrer, die mich haben wachsen lassen. Denn:
Non scholae sed vitae discimus.
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