Bildungsweise

Susanne Posselt

Anschluss ans Leben

Oder: Wörter die ich vor meiner Krebserkrankung nicht kannte: Anschlussheilbehandlung

Ich war noch nie in meinem Leben in einer Reha-Klinik. Als ich mit meinem Urologen zum ersten Mal über die geplante Operation sprach, sagte er: „Und dann gehen Sie direkt nach der OP für drei Wochen nach Durbach zur Anschlussheilbehandlung. Und ich rate Ihnen: Machen Sie das auf jeden Fall. Dann sind Sie ganz schnell wieder fit.“ 

Jetzt, wieder zu Hause, kann ich sagen: Er hatte recht. Wenn ich daran zurückdenke, wie ich mich am Montag vor drei Wochen nach der ersten längeren Autofahrt seit der OP in Durbach aus dem Auto geschält habe, kann ich kaum glauben, wie gut es mir heute wieder geht. Damals, im März, dachte ich, wenn mein Urologe das so sagt, wird es wohl wichtig sein, in die Anschlussheilbehandlung zu gehen. 

Ich erkundigte mich schon vorher beim Landesamt für Besoldung nach der „Beihilfefähigkeit“ dieser Reha-Klinik und der Rest erledigte sich sozusagen von selbst. Bereits bei der Operationsvorbesprechung eine Woche vor der OP gab man mir eine Liste mit empfehlenswerten Kliniken und riet mir, am besten gleich dort anzufragen, ob für den fraglichen Zeitraum Mitte August noch ein Platz verfügbar wäre. Gesagt, getan. Einige Tage vor der OP hatte ich die Zusage der Klinik und wenige Tage nach der OP kam der Sozialdienst des Städtischen Klinikums, um die noch fehlenden Anträge gemeinsam mit mir auszufüllen. 

Anschlussheilbehandlung

Anschlussheilbehandlung.
Eine Behandlung, die der Heilung dient und die sich an eine andere Behandlung anschließt.
In meinem Fall also an eine Operation.

Knapp drei Wochen war ich dort. Mein Aufenthalt endete früh morgens am letzten Sommerferientag. Das Wetter war die ganze Zeit über herrlich, wenn auch manchmal zu heiß, die Gegend ein Traum. Am Montag fing die Schule wieder an. Für mich noch nicht, aber immerhin ist sie nun wieder in Sicht.

Zugegeben: Zu Beginn meines Aufenthaltes war ich noch verunsichert und es fiel mir nicht so leicht, mich auf die Klinikroutinen einzulassen. Das mag auch daran liegen, dass ich Kliniken nicht sonderlich mag. Man ist fremdbestimmt und es gibt wenig Raum für individuelle Bedürfnisse. Ich hatte noch Schmerzen, die Wunden waren noch nicht vollständig verheilt und der Umgang mit den Hilfsmitteln für meinen Mainz Pouch fiel mir manchmal noch schwer. Der Bauch war noch geschwollen, ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder normale Jeans zu tragen, ich war sehr mit mir selbst beschäftigt und hatte wenig Lust, im gemeinschaftlichen Speisesaal Kontakt zu anderen Menschen zu knüpfen, die im Zweifel ja genauso mit sich selbst beschäftigt waren. Und wie fängt man in dieser Situation ein Gespräch mit völlig Wildfremden an? „Guten Tag, an welchem Gebrechen leiden denn Sie?“ Die Klinik hier hat zwar einen Schwerpunkt auf uroonkologischen Krankheitsbildern – Krebserkrankungen im Bereich der ableitenden Harnwege -, aber es gibt auch weitere Abteilungen, wie etwa Adipositas, Diabetes, Nierenerkrankungen und ein Traumazentrum. Man begegnet sich im Speisesaal, bei den Gruppenanwendungen oder bei Vorträgen. Oft sind dort aber verschiedene Krankheitsbilder zusammengefasst. In der Uroonkologie sind es in der überwiegenden Anzahl Männer mit Prostatakrebs, die sich hier treffen und auch schnell finden. Meine Krebsart ist selten, erst recht bei Frauen in meinem Alter.

Auf dem Weg zum Ziel

Die Klinik bietet ein sehr vielfältiges und umfassendes Angebot mit dem Ziel der Rehabilitation – der Wiederherstellung der körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit. Man legt Wert auf Aktivität und Anschlussfähigkeit. Die Menschen sollen dort lernen, aktiv mit ihrer Erkrankung umzugehen, körperlich fit zu werden und Strategien zur Bewältigung zu erlernen, die sie auch zu Hause umsetzen können. Es gibt angepasste Sportkurse, Kurse zum Erlernen von Entspannungsmethoden, psychologische Gruppen- und Einzelangebote, Ernährungsberatung, Kochkurse, ein individuell angepasstes Kraft- und Ausdauertraining, Vorträge zu verschiedenen Krankheitsbildern und ein abwechslungsreiches Ausflugs- und Veranstaltungsangebot, das auch kreative Kurse umfasst. 

Der Mainz Pouch als Spezialfall

Wenn man die Blase nicht retten kann, braucht man eine andere Methode, um den Urin, der als Ausscheidungsprodukt der Nieren irgendwohin abfließen muss, nach außen abzuleiten: Eine Ableitungsmethode. Die meisten älteren Menschen erhalten dann ein sogenanntes Urostoma, das ist sozusagen ein Loch in der Bauchdecke, aus dem der Urin, der sich zuvor in einem Resevoir aus Dünndarm gesammelt hat, in einen auf die Haut aufgeklebten Beutel fließt. So eine schicke Lösung, wie ich sie erhalten habe, wird nur jüngeren Menschen angeboten, deren Körper stark genug ist, um die Folgen der dafür notwendigen umfangreichen Operation bewältigen zu können. Der Mainz Pouch gehört zu den „Kontinenten Ableitungen“ –  das bedeutet, dass ich die Ausscheidung meines Urins nach wie vor kontrollieren kann, indem ich ihn regelmäßig über einen Katheter, den ich mir durch ein Nabelstoma in die Ersatzblase einführe, nach außen ableite. Von außen sieht man nichts: Kein Beutel, keinen Schlauch. Nichts.

Es gibt nicht (mehr?) allzu viele Kliniken in Deutschland, die diese Form der Ableitung in ihrem Portfolio haben. Dass ich die einzige mit Mainz Pouch war, wurde mir schon am ersten Tag von der Ärztin gesagt und hat mich daher nicht wirklich überrascht. Ich hatte damit gerechnet, ein „Spezialfall“ zu sein.

Insgesamt war ich zufrieden mit dem Angebot der Klinik. Das gesamte Personal war überwiegend sehr freundlich und hilfsbereit. Ich konnte jederzeit Hilfe in Anspruch nehmen und man bemühte sich sehr, ein passendes Angebot für mich zusammenzustellen. Schade war allerdings, dass ich erst nach über einer Woche anderen Menschen mit Blasenverlust begegnet bin – im Rahmen einer Gesprächsgruppe zum Thema Ernährung nach Darmoperationen. Da hätte ich mir eine mehr gezielte Gruppenzusammenführung gewünscht. 

An Tag 15 gab es schließlich zum ersten Mal einen Vortrag zum Thema Krebs der ableitenden Harnwege. Das fasst alle Krebsarten der Blase, der Harnleiter und der Nierenbecken zusammen. Die meisten Menschen, die in diesem Vortrag saßen, waren eher 80 plus. Es gab nur vereinzelt welche in meinem Alter – aber immerhin: Es gab sie. 

In der Anschlussheilbehandlung sollte ich nun wieder fit werden und den Umgang mit den veränderten körperlichen Gegebenheiten sowie meinen Hilfsmitteln lernen. 

Intermittierender Selbstkatheterismus (ISK)

Intermittierender Selbstkatheterismus.

Das bedeutet, dass ich regelmäßig einen Katheter verwenden muss, um meine Ersatzblase zu entleeren. Besitzer eines Mainz Pouches nennen diesen Vorgang liebevoll „pouchen“. Ich führe einen Katheter in meinen Pouch-Zugang (Nabelstoma) ein, der völlig unsichtbar in meinem Bauchnabel versteckt ist. Durch eine spezielle Operationstechnik (Kontinenzmechanismus) ist mein Loch im Bauch völlig dicht. Der Urin fließt nur, wenn ich den Katheter hindurchschiebe. Das tut überhaupt nicht weh. Es sieht nur lustig aus.

Mit dem Intermittierenden Selbstkatheterismus (abgekürzt ISK – was für ein Wort!) kam ich von Beginn an erstaunlich gut zurecht. Ich muss nur immer darauf achten, viel zu trinken, damit sich der Schleim aus der Ersatzblase gut lösen kann. Da die Blase ja die meiste Zeit ihres Lebens Darm war, denkt sie, sie sei es noch immer und produziert fleißig Schleim. Der muss raus, weil sich andernfalls schmerzhafte Harnsteine bilden könnten. Es gibt unterschiedliche Katheter auf dem Markt, die zu diesem Zweck unterschiedlich gut geeignet sind. Ich hatte gehofft, dass es in der Klinik Expert:innen für den Mainz Pouch gibt und ich vielleicht auch die Möglichkeit habe, verschiedene andere Katheter auszuprobieren. Leider war das nicht wirklich so. Nachdem ich mich kurz darüber geärgert hatte, dachte ich mir: Selbst ist die Frau! Und bestellte über meinen Hilfsmittelversorger (noch so ein Wort…) selbst Probekatheter in die Reha-Klinik. Eins der gelieferten Modelle entsprach nun meinen Anforderungen und ich komme seither gut damit zurecht. Ein großer Vorteil an diesem Modell ist: Es ist ein flexibler Katheter der zusammengerollt in einem handlichen Format geliefert wird. Man hat kein 40 Zentimeter langes Monstrum, das in irgendeiner Tasche verstaut werden muss. (Aus der Rubrik: Probleme, die ich „vorher“ nicht kannte.)

Der Darm ist eine Diva

„Der Darm ist eine Diva“. Das sagen die Leute, deren Darm schon einmal operiert wurde. Ein Teil meines Darms musste umfunktioniert werden, das heißt, es wurde ein Stück herausgeschnitten und daraus ein Beutel (=Pouch) genäht, der jetzt als Blase dient.

Neben den zu erwartenden körperlichen Umstellungsprozessen hatte ich die Folgen der Darmoperation etwas unterschätzt und mir in der Klinik dann eine gezielte Ernährungsberatung gewünscht. Diese habe ich in der Gruppe, aber auch in Form einer Einzelberatung erhalten. Ich weiß nun, dass ich bestimmte Nahrungsmittel nicht essen sollte, vielleicht auch nie wieder essen kann, weil mein Darm für die gewählte Ableitungsmethode ja verkürzt werden musste. Die Umstellung fällt mir nicht sehr schwer, weil es vor allem um blähende Lebensmittel geht.

Postoperative Gymnastik und sequenzielles Muskeltraining

Besonders gut haben mir die sportlichen Angebote gefallen. Ich hatte jeden Tag ein bis zwei Einheiten (à 20 Minuten) Gymnastik: Es gab spezielle Gruppen für frisch operierte Frauen und gemischte Gruppen für eine leichtes Rückentraining. Außerdem durfte ich nach einer Einweisung jeden Tag ein speziell für mich angepasstes sequenzielles Muskeltraining an Geräten absolvieren (sehr zu Erheiterung meiner Kinder in deren Augen die Mutter und Fitnessgeräte sicher nicht wirklich zusammenpassen). Einmal in der Woche sollte ich 20 Minuten spazieren gehen. Diesen Tipp ignorierte ich mit einem Grinsen. Schließlich war ich bereits gut zwei Wochen nach der OP mit Luna wieder unterwegs gewesen. Ich beschloss aus dem „einmal die Woche“ kurzerhand ein „einmal am Tag“ zu machen und nahm mir vor, mindestens 20 Minuten zu laufen. Das Training zeigte schnell Erfolg: Nach einer Woche ging es mir spürbar besser und nach zwei Wochen konnte ich eine Wanderung von sieben Kilometer Länge mit einer Steigung von 250 Metern bewältigen. 

Und nun? Den Anschluss wiederfinden…

Nun gilt es – zurück zu Hause – den Anschluss ans Leben wiederzufinden. Fast zwei Monate lang war ich in einer Art Filterblase gefangen. Teilweise fiel mir das gar nicht so auf, weil 6 Wochen Sommerferien in dieser Zeit lagen und ohnehin alle (aus der Schul- und Eltern-)Welt ausgeflogen war(en). Doch nun fehlt mir der Anschluss. Ich war am Dienstag eine Weile in der Schule, habe mein E-Mail-Postfach geöffnet und den Inhalt überflogen, Kolleginnen und Kollegen begrüßt und ein bisschen bei der Einschulung der neuen Fünfer zugeschaut. Letztes Jahr stand ich noch in der Aula der Anne-Frank-Schule und habe aufgeregte Kinder in Empfang genommen. So kann sich innerhalb von einem Jahr alles ändern. 

Ich freue mich darauf, den Anschluss wieder zu finden. Wahrscheinlich werde ich bei der Suche etwas Unterstützung benötigen und Geduld aufbringen müssen. Dass ich ihn wieder finde, da bin ich mir jedoch ganz sicher. 

Eure Susanne

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2 Kommentare

  1. herrmess Freitag, 13. September 2024

    Ich freue mich sehr, dass es dir wieder stetig besser geht! Der Artikel offenbart erst, was du für eine harte Zeit hinter dir hast! Krebs ist für mich ein heimlicher Angstgegner…

  2. Herr Rau Montag, 16. September 2024

    Weiterhin vielen Dank fürs Teilen. Intermittierender Selbstkatheterismus, ich kann es inzwischen auswendig sagen! (Alles Gute dir.)

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