Bildungsweise

Susanne Posselt

(Rück)Besinnung

Mein Beitrag zur Edublogparade Nr. 9 

Vorbemerkung: Eine Reihe von bildungsaffinen Bloggern hat sich zum Ziel gesetzt, 2024 häufiger thematisch gemeinsam zu bloggen. Die Themenvorschläge werden an dieser Stelle gesammelt, alle Beiträge zum aktuellen Thema sind unter dem Beitrag zu finden. Dieser Beitrag bildet den Abschluss der Reihe.

Am Ende eines Jahres besinnt man sich. Nach der Weihnachtszeit, die als besinnlich gilt, blickt man zurück auf das Vergangene. Wenn ich an meine letzten Weihnachtsferien zurückdenke, dann waren sie so, wie vermutlich für viele andere Lehrkräfte: Ganz und gar nicht besinnlich. Man hält die Adventswochen mit ihren unzähligen Feiern, die zwischen die gefühlt immer zahlreicher werdenden Leistungsnachweise eingewoben sind, tapfer durch. Man bastelt Fenstersterne, übt Weihnachtslieder ein, backt Plätzchen, mit der Klasse oder fürs Kollegium. Kurz vor den Ferien schaut man Filme, geht Eislaufen (wenn es kalt genug ist und alle den vorgeschriebenen Fahrradhelm dabeihaben), auf den Weihnachtsmarkt oder ins Museum. Wann auch sonst? Das Schuljahr ist getaktet und man weiß genau: Rechtzeitig vor Weihnachten müssen Klassenarbeiten und Lernnachweise geschrieben sein, damit man sie mit in die Ferien zum Korrigieren nehmen kann. Korrekturstapel unter dem Weihnachtsbaum, Zeugnistexte zwischen den Neujahrswünschen, das ist die Realität der Zeit um die Jahreswende.

Januar: Probleme sind verkleidete Möglichkeiten

Bei mir war dieses Jahr alles anders. Als hätte ich es geahnt, war mein schulisches Motto für das Jahr 2024: „Probleme sind verkleidete Möglichkeiten“. Mein schulischer Jahresrückblick enthält deshalb viel Persönliches. Vieles hat im engeren Sinne nichts mit der Schule zu tun. Gleichzeitig war mein persönlicher Weg und der damit verbundene Lernprozess so wichtig für mein schulisches Selbstverständnis, dass ich all das gar nicht getrennt voneinander betrachten kann. Und es gab trotz allem ein paar schulische Konstanten, die ich mir auch über dieses Jahr hinweg bewahren konnte. Zum Glück.

Der Jahresbeginn 2024 war für mich von unguten Gefühlen und körperlichen Beschwerden begleitet. Die paar Tage, die ich mir wirklich frei nehmen konnte, waren nicht erholsam, weil sich ein bohrender Schmerz in mir breit machte. Eigentlich bin ich gut im Ignorieren, aber diesen Schmerz konnte ich nicht wegatmen. Heute – ein Jahr später – bin ich froh, dass er sich nicht wegatmen ließ. Vielleicht war es meine Rettung. Vor einem Jahr wusste außer meinem engsten Umfeld niemand davon. 

Der 5. Januar war der letzte Ferientag und er markiert den Beginn meiner unfreiwilligen Reise durch die Karlsruher Urologie. „Da ist etwas.“ Der Satz meines Urologen klingt heute noch in meinen Ohren. Er sagte, da müsse man genauer nachschauen und überwies mich in die Radiologie zum CT. Möglichst schnell. An diesem Tag fiel das Wort Blasenkrebs zum ersten Mal. Wobei. Möglicherweise sei es ja auch harmlos. Es klang nicht sehr überzeugend.

Ich ging am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien wieder zur Schule. Ganz normal. Es waren die letzten Wochen meines Doppelkopfdaseins zwischen zwei Schulen, zwei Rollen, zwei Orten. Bis zum Ende des Halbjahres war ich noch rückabgeordnet (Was für ein Wort!) an meine bisherige Schule, die Anne-Frank-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe, die ich im Begriff war zu verlassen. Ich war bereits seit Dezember 2023 als stellvertretende Schulleiterin der Nordstadtschule eingesetzt und fuhr nun zweimal die Woche in die entgegengesetzte Richtung wie gewohnt. Einmal die Woche war ich sogar an beiden Schulen präsent. Unterricht hatte ich noch an meiner alten Schule. 

Februar: Abschied und Ankunft

Dieser Zustand hatte mit der Übergabe der Lernentwicklungsberichte zum Halbjahr ein Ende. Ich war froh und traurig zugleich. Froh, weil ich endlich richtig an der neuen Schule ankommen konnte. Traurig, weil ich gerne an der Anne-Frank-Schule Lehrerin war und meine Kolleginnen und Kollegen dort vermissen würde. Mein Abschied war wunderbar und herzerwärmend. Schülerinnen hatten für mich einen Lernentwicklungsbericht verfasst und mein Kollegium überreichte mir einen Besen mit guten Wünschen, der mich – wie die kleine Hexe – im Fall der Fälle durch die Lüfte tragen sollte. Fliegen können, das hätte ich mir im Lauf dieses Jahres tatsächlich hin und wieder gewünscht. Ich übernahm an der Nordstadtschule eine dritte Klasse in Deutsch und gleichzeitig auch als Klassenleitung, weil Grundschullehrkräfte fehlten. In einer neunten Klasse gab ich Kunst. Den Rest meiner Stunden (und ehrlicherweise deutlich mehr) nahmen die Leitungsaufgabe an dieser großen Schule ein. 

Es war eine schöne, herausfordernde, anstrengende und gleichzeitig interessante Zeit. Ich wusste ja noch gar nicht so genau, ob der Schritt in Richtung Schulleitung sich für mich als der richtige erweisen würde. Im Nachhinein kann ich sagen: Es war der richtige Schritt zur richtigen Zeit. Ich hätte mir einen etwas einfacheren Start gewünscht, aber in Anbetracht der Umstände war es der bestmögliche Start. Es war eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung. Wir schmiedeten Pläne für die Schulentwicklung. Wir schickten Kolleginnen und Kollegen zum Vernetzungstreffen Gemeinschaftsschule nach Stuttgart. Wir meldeten uns als Schulleitungsteam für einen Erasmus+ Kurs in Finnland und Estland an. 

Ende Februar wurde ich mittels Computertomographie durchleuchtet bis in den letzten Winkel. Zunächst sah offenbar alles altersgemäß normal aus. Ich witzelte noch mit der Röntgenärztin über meine körperlichen Wechseljahrsverschiebungen. Normalerweise sprechen wir Frauen selten über dieses Thema, das uns unweigerlich mit Erreichen eines bestimmten Alters blüht. Ich wurde im August 50. Mein körperlicher Sommer war definitiv vorbei. Am folgenden Tag rief die urologische Praxis an. Der Arzt wollte mich noch vor den Faschingsferien sehen. Er bestellte mich ein, durchleuchtete mich erneut und sagte dann: Da ist was. Wir müssen noch genauer hinschauen.

Er meldete mich zur Transurethralen Resektion der Blase im Städtischen Klinikum an. Dort sollte eine Gewebeprobe entnommen werden. Was, wenn es tatsächlich Blasenkrebs ist? Dann komme es darauf an, wie tief der Tumor bereits in das Gewebe eingedrungen sei. Im schlimmsten Fall sei der Muskel befallen. Dann müsse die Blase raus. Er würde sich dann ja einen Pouch machen lassen, sagte mein Urologe. Einen Mainz Pouch. 

Ich nahm das Gehörte mit in den Skiurlaub. Mir schwante längst, dass der Tumor, der sich bislang nur als Verdickung der Blasenwand gezeigt hatte, nicht harmlos war. Meine Beschwerden wurden zusehends schlimmer. Ich überstand meine Tage nicht mehr ohne Schmerzmedikation. 

Der Skiurlaub war herrlich. Wir wohnten direkt am Lift. An einem der sonnigen Tage fuhr ich nicht die Piste hinab, sondern wanderte inmitten des Bergpanoramas durch den Schnee. Ich konnte mich jederzeit zurückziehen. Ich genoss die Luft, den Schnee, die Berge.

März: Stufen

Am zweiten Märzwochenende war ich mit dem Vorstandsbereich Allgemeine Bildung der GEW auf der Reichenau am Bodensee. Auch dort hatten wir herrliches Wetter und Bergblick über den See hinweg. Pädagogik, Bildung und Erziehung sind Lebensthemen für mich. Das Gremium in der GEW, das sich systematisch mit dem E im Gewerkschaftsnamen befasst, ist eins meiner „Lieblingsgremien“ (sofern man das von einem Gremium behaupten kann).

Zwei Tage später, am 11. März fuhr ich morgens in die Klinik. Mein Weg führte geradewegs durch den OP. Dort versetzte man mich in Narkose. Nach der OP nahm ich noch im Dämmerschlaf wahr, wie einer der Operateure neben mir stand und sagte: „Die muss raus.“ Ich lag alleine im Aufwachbereich, neben mir andere Frischoperierte. Mir liefen die Tränen übers Gesicht. Da war niemand, der mir beistehen konnte. Es war der schlimmste aller Tage in diesem Jahr 2024. Ich fiel weinend in einen erneuten Dämmerschlaf und wachte auf Station 4d in einem Zimmer mit Schwarzwaldblick wieder auf. Ich sah die Hügel in der Ferne. Mir war klar: Nun gab es kein Zurück mehr. An diesem Tag fasste ich den Entschluss: Ich nehme den Weg an. Mit allem, was dazugehört. Dem Schmerz, der Wut, aber auch der Zuversicht, dass man mir wird helfen können. Gleichzeitig beschloss ich, dass ich den Weg teile. So, wie er eben sein würde. Ich informierte noch aus dem Krankenhaus heraus meine Schulleitungkollegen und das Schulamt. Dann schrieb ich eine E-Mail ans Kollegium. Mit schonungsloser Offenheit, aber auch mit Entschlossenheit und Zuversicht. Am 23. März veröffentlichte ich auf meinem Blog einen Beitrag mit dem Titel „Stufen“. In meiner Blogstatistik ist er einer meiner meistgelesenen Beiträge.  

April: Chemotherapie

Ich erhielt noch in der Klinik meinen vorläufigen OP-Termin: Es sollte der 23. April sein. Ich arbeitete weiter und versuchte, meine zeitweilige Abwesenheit bestmöglich vorzubereiten. Ich wusste ja nicht wie lange ich ausfallen würde. Und überhaupt wusste ich auch noch gar nicht, wie weit der Krebs sich schon ausgebreitet hatte. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass ich für eine Weile nicht würde arbeiten können und schrieb noch Ende März einen Beitrag zur Edublogparade über meine Begeisterung für meinen Beruf.

Mein Kollegium unterstützte mich großartig. Ich organisierte den Tag der Berufsorientierung mit, gestaltete unverdrossen die Einladungen zum Frühlingsfest und gruppierte alle meine Arzttermine um meine schulischen Termine herum. Und trotz allem kandidierte ich für den Hauptpersonalrat. Ich wollte meine berufliche Zukunft nicht von dem Monster in mir bestimmen lassen. Ich wollte ihm keine Macht über mich und meine Zukunftshoffnung geben. In den Osterferien feierte meine Schwiegermutter ihren 80. Geburtstag. Die ganze Familie kam zusammen. Danach fuhr ich mit meiner Tochter Nike nach Paris. Wir genossen die gemeinsame freie Zeit in vollen Zügen.

Am 9. April bestellte mich der Klinikdirektor zu einem Vorgespräch wegen der OP ein. Wir besprachen die verschiedenen Optionen und er schlug mir vor, zunächst noch eine Chemotherapie durchführen zu lassen. Diese sollte so schnell wie möglich beginnen. Er sagte, natürlich könne man während dieser Zeit arbeiten. Er riet mir jedoch, es zu lassen und mich nun voll und ganz auf meine Genesung zu konzentrieren. Ich wusste, was eine Chemotherapie bedeutet. 

Meine Auszeit von der Schule begann also früher als gedacht. Ich erhielt für den 15. April einen OP-Termin zur Implantation eines Portkatheters für die Chemotherapie. Am 12. April verabschiedete ich mich von meinen Klassen und hinterließ meinen Schreibtisch aufgeräumt. Für einen unbestimmten Zeitraum. Ich stellte meinen dienstlichen Threema-Kanal so um, dass ich keine Benachrichtigungen mehr erhielt und leerte mein E-Mail-Postfach. Am 19. April begann meine Chemotherapie mit dem ersten Zyklus

Mai und Juni: Auszeit

In der Zeit der Chemotherapie ging es mir glücklicherweise nicht durchgehend schlecht und ich nutzte die guten Zeiten, um weiter Beiträge für die Edublogparade zu schreiben. Ich schrieb über Beeindruckende Lehrer:innenpersönlichkeiten aus meiner eigenen Schulzeit und zog eine ganz persönliche Bilanz zum Thema Arbeitszeit von Lehrkräften

Ich schrieb übers Schreiben und darüber, warum ich gerne (über Bildung) schreibe.

Manchmal schrieb ich auch über andere Themen, die mich beschäftigten: Über meine innere Schwester und über Werte und Menschlichkeit.

Die Zeit zwischen dem 12. April und dem 15. Juli war eine seltsame Zeit. Ich war da und doch nicht da. Die Schule lief weiter – ohne mich. Ich nahm Anteil, stand aber daneben. Während für mich der Operationstermin näher rückte, nahm in der Schule der Schuljahresendstress seinen Lauf. Die Chemotherapie war eine krasse Erfahrung. Mein Körper reagierte mit großer Erschöpfung und zeitweise hatte ich das Gefühl, nicht mehr richtig denken zu können. Ein Tinnitus stellte sich ein und blieb. Dennoch nutzte ich die guten Zeiten. Zweimal fuhr ich mit Dietmar in dieser Zwischenzeit während der Schulzeit mit dem Zug in die Schweiz. Ich machte Urlaub von der Chemo und Urlaub vor der OP, während alle meine Kolleginnen und Kollegen ihrem Tagwerk nachgingen. Das fühlte sich richtig und falsch zugleich an. Wie so vieles in diesem Jahr. Ich fuhr zu meinem 30-jährigen Abitreffen nach Siegen.

Juli: Hoch hinauf und mit Leichtigkeit in ein neues Leben

Am 14. Juli brachte Dietmar mich in die Klinik. Dort schrieb ich meinen letzten Blogartikel mit Blase und bereitete ich mich innerlich und äußerlich auf die Operation vor, die am 15. Juli stattfand. Sie dauerte 7 Stunden und 17 Minuten und meine Erinnerung setzt erst in der Nacht auf den 16. Juli wieder ein, als ich mich auf der Intensivstation zwischen piepsenden Geräten und angeschlossen an zig Schläuche wiederfand. Wie die OP verlief, kann man hier nachlesen. Es war eine schwierige Zeit, für Dietmar und die Kinder noch mehr als für mich. Eine Woche vor meiner OP war unsere Leonbergerhündin Amy verstorben und Dietmars Vater lag schwer erkrankt im künstlichen Koma. 

Ich stand drei Tage nach der OP wieder auf meinen Beinen und ging eine Woche später zum ersten Mal Kaffeetrinken im Klinikcafé. Insgesamt blieb ich nur 14 Tage. Noch in der Klinik schrieb ich meinen Beitrag zur Edublogparade Schule und Leben.

August: 50!

Als ich wieder zu Hause war, hatten die Sommerferien begonnen und alle fuhren in den Urlaub, während ich mich mit meinem neuen Körpergefühl anfreunden musste und am 15. August meinen 50. Geburtstag – ganz anders als gedacht – feiern durfte. Dietmar hatte ich in den Urlaub in die Bretagne geschickt, zu Hause kümmerten sich meine Kinder um mich. 

In der Anschlussheilbehandlung im schönen Durbach im Ortenaukreis stellte man mich in den folgenden drei Wochen wieder auf die Beine. 

September: Anschluss ans Leben

Im September schonte ich mich auf Anraten der Ärzte noch ein wenig und ließ meinem Körper seine Zeit. Ich verließ die Staufenburgklinik am ersten Schultag und schon am folgenden Wochenende konnte ich gemeinsam mit Dietmar meine erste kleine Zugreise in die Schweiz unternehmen. Mein Rucksack war nun ein wenig schwerer und Dietmar trug ihn für mich. Es war ein unbeschreibliches Gefühl der wiedergewonnenen Freiheit. 

Ich wollte bald wieder mit der Arbeit beginnen. Zu Hause begann ich die Wohnung auszumisten und ich gestaltete mein Arbeitszimmer neu. Dank meiner gewerkschaftlichen Netzwerke hatte ich die besten Ratgeber und konnte meine Rückkehr über das betriebliche Eingliederungsmanagement gründlich und detailliert planen. Ich wollte noch abwarten, wie ich die Immuntherapie vertragen würde und dann stundenweise zurückkehren. Die Immuntherapie begann Ende September, zunächst im vierzehntägigen Rhythmus. Ich musste immer montags zur Blutbnahme erscheinen, dann mittwochs zur Vorbesprechung und donnerstags zur Therapie. Ein ziemlicher Zeitaufwand. Bei der ersten Kontrolluntersuchung sagte mein Urologe zu mir, ich könne die Therapie auch bei ihm in der Praxis machen, wenn mich der Klinikablauf zu sehr auf die Nerven gehe. Ich entschied mich, zunächst in der Klinik zu bleiben und den Verlauf der Therapie abzuwarten. 

Oktober: Wiedereingliederung

Meinen Dienst nahm ich Anfang Oktober beim Vernetzungstreffen der landesweiten Pädagogikteams wieder auf. Noch ganz ohne Verantwortung genoss ich es, wieder mitten im Geschehen zu sein. Das Landesteam Pädagogik ist eines meiner Herzensprojekte, weil ich der Auffassung bin, dass Schule die Pädagogik mehr ins Zentrum stellen sollte. 

Meine Immuntherapie wurde bereits beim zweiten Termin auf einen 4-wöchigen Rhythmus umgestellt, ich war nun zeitlich also wieder etwas flexibler.

In Ludwigsburg konnte ich meinen ersten GEW-Termin nach der OP wahrnehmen und wurde dort bei der Landespersonengruppen- und Fachgruppenversammlung wieder zur Vorsitzenden der Landesfachgruppe Gemeinschaftsschule gewählt, diesmal im Team mit Heike Ackermann.

Bis zu den Herbstferien war ich mit 12 Deputatsstunden in der Schule und konnte mich – noch ohne Unterricht – erst einmal wieder eingrooven. 5 Monate war ich weggewesen. Vieles war wie immer. Manches anders. Meine Konrektoratskollegin hatte sich auf eine Schulleitungsstelle an einer anderen Schule beworben und ihr Schreibtisch gegenüber von meinem war nun verwaist. Mein Schulleitungskollege hatte die Schule in den letzten Wochen – unterstützt durch das Steuerteam –  alleine geleitet und war froh, dass ich wieder da war. Jede Stunde zählte. Meine Immuntherapie vertrug ich gut. Die Schule tat mir gut. Ich holte mir die Zustimmung meiner Ärzte ein und wir buchten mutig die Flugtickets für unseren Erasmus+ Kurs in Finnland und Estland. 

In den Herbstferien durfte ich auf Einladung des Klett-Verlages einen Podcast mit Maximilian Schulyok aufnehmen und mit ihm über das Thema Arbeitszeit von Lehrkräften und meine Arbeit im „Bildungsrat von unten“ sprechen.

November: Hattie auf dem Schulleitungskongress

Ulla  aus dem von mir betreuten Cluster „Arbeitszeit und Arbeitsbelastung“ vom „Bildungsrat von unten“ besuchte uns am 1. November in Karlsruhe und wir hatten eine richtig gute Zeit im ZKM. Dort gab es eine Ausstellung über Künstliche Intelligenz und ich schrieb einen Beitrag dazu.

Ich steigerte meine Stundenzahl in der Schule nach den Herbstferien und nahm andere Tätigkeiten wieder auf. Natürlich ist es nicht mehr wie vorher. Die Krebsdiagnose und der Verlust meiner Blase haben körperliche Folgen, die bleiben werden. Ich habe inzwischen einen festgestellten Grad der Behinderung, der mich zur Schwerbehinderten macht. Ich trage immer eine kleine Tasche mit einem Notfallkatheter und einem Notfallausweis mit mir herum. Meine Behinderung ist jedoch nicht sichtbar. Man sieht mir nichts an. 

Der November war umtriebig. Ich nahm an meiner ersten Schwerbehindertenjahresversammlung im Schulamt teil. Meine Immuntherapie lief weiter. Ich vertrug sie so gut, dass ich am Therapietag im November abends nach Stuttgart fahren und am Netzwerkdinner meines BildungsfrauenBW-Netzwerkes teilnehmen konnte. 

Als Schulleitungsteam besuchten wir am 11. November den Schulleitungskongress in Heilbronn, bei dem der große Bildungsforscher John Hattie zu Gast war. Er sprach uns aus der Seele. Warum trennen wir in Deutschland die Kinder so früh? Es gibt aus Sicht der Forschung kein Argument, das dafür spricht. Im Gegenteil. „Die Gesellschaft braucht künftig Uniabsolventen, die mit Menschen kommunizieren können, und zwar über das gesamte gesellschaftliche Spektrum hinweg. Wenn Kinder im Alter von neun oder zehn Jahren aufgeteilt werden, und zwar nicht nur nach Leistung, sondern de facto oft auch nach sozialer Herkunft, bleiben sie unter sich. Sie sprechen nicht mit »den anderen«“; sagt Hattie in einem großen Spiegel-Artikel, der im Dezember erschien.

Ich nahm wieder an den Sitzungen des Vorstandsbereichs Allgemeine Bildung der GEW teil und nahm meine Arbeit im Landesteam Pädagogik nach und nach wieder auf. Zu meinen Aufgabengebieten in der Schulleitung zählt die Betreuung der Lehramtsanwärterinnen (Referendarinnen). Auch diese Aufgabe nahm ich nun wieder wahr und nahm an den Unterrichtsbesuchen der Seminarlehrbeauftragten teil. Ich wurde ins Kultusministerium zu einer Gesprächsrunde im Referat für Gemeinschaftsschulen eingeladen und nutzte diese Gelegenheit, um vorher endlich mal die Hardtschule in Durmersheim zu besuchen und mir von Volker Arntz das preisgekrönte Schulkonzept vorstellen zu lassen. 

Meine Tochter Nike hatte inzwischen ein Lehramtsstudium in Heidelberg aufgenommen und wir führten viele interessante Gespräche am Esszimmertisch. Ich setzte daraufhin eine schon länger bestehende Idee um: Ein eigener Bildungspodcast zu den Schlüsselbegriffen der Pädagogik. Wir verlegten unsere Gespräche kurzerhand ins Internet. Mein Sohn Tristan, angehender Erzieher in der praxisintegrierten Ausbildung, hörte von unserem Plan und sagte: Dann will ich aber mitmachen. Nun haben wir also unseren eigenen Podcast. Er heißt Klassenrat und man kann ihn auf allen gängigen Plattformen hören.  In der ersten Folge geht es um „Kompass 4“, das neue Übergangsverfahren in Baden-Württemberg für die Verteilung der Kinder nach Klasse 4 auf die weiterführenden Schularten. Dazu hatte ich mich im Vorfeld bereits hier geäußert. 

Für meinen Schwiegervater erwies sich der November als Endstation auf seiner Lebensreise. Er starb am 15. November, genau vier Monate nach meiner Operation. Wir verabschiedeten uns am letzten November-Donnerstag bei herrlichem Sonnenschein und strahlendem Bergpanorama im Allgäu von ihm.

Dezember: Im hohen Norden

Ende November war es schließlich soweit: Oliver Hesselschwerdt und ich traten als Schulleitungsteam unsere Reise in den hohen Norden an, um vom 1. bis zum 7. Dezember im Rahmen von Erasmus+ Einblicke ins finnische und estnische Schulsystem erhalten zu können. Meine Immuntherapie hatte ich zu diesem Zweck um eine Woche nach hinten verschoben und meine medizinischen Hilfsmittel ordnungsgemäß per Formular bei den Fluggesellschaften gemeldet. Es war vielleicht mutig, aber auch wichtig für mich. So lange hatte ich mich schon auf diese Reise gefreut, auf den Blick über den Tellerrand und neue Erkenntnisse zur Schulentwicklung. Unsere Eindrücke aus Finnland und Estland habe ich auf meinem Blog festgehalten und es gibt nun sogar eine Podcast-Folge der Zeitschrift Lehren und Lernen, in der ich live aus Finnland berichte.

Die zwei verbliebenen Schulwochen im Dezember vergingen wie im Flug. Sie folgten der üblichen Adventschoreografie: Diverse Weihnachtsfeiern standen auf dem Programm, wir aßen tonnenweise Weihnachtsgebäck, schrieben Weihnachtspost und verabschiedeten uns schließlich in die Weihnachtsferien. Mir war es ein Anliegen, dass wir uns als Schulleitung beim Kollegium für dieses verrückte Jahr bedankten. Ich buk (Die Deutschlehrerin sagt: Ja, das ist die korrekte Präteritumsform von backen) Zimtherzen fürs Kollegium, schrieb einen Dankestext, nahm ein Video auf, besprach alles mit meinem Schulleitungskollegen und schnitt unsere Videos zusammen. Wertschätzung ist wichtig. Wir alle vergessen das allzu leicht im Trubel des Alltags. 

So endet dieses Jahr heute.
Ein einschneidendes Jahr. 
Ein Jahr, das mich auf die Probe gestellt hat.

Es bleibt mir, danke zu sagen. Euch, die ihr das hier lest, für eure Unterstützung und eure freundlichen Worte. Dem Himmel mit seinem Schöpfer, der mir Lebenszeit geschenkt hat. Meiner Familie, die mich unermüdlich durch diese Zeit getragen und begleitet hat. 

Das Jahr war anders, als gedacht. Und doch war es gut. 

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1 Kommentar

  1. Herr Mess Mittwoch, 1. Januar 2025

    Was für ein toller Beitrag! Und was für eine riesige Achterbahnfahrt du hinter dir hast. Meine Hochachtung für dein Durchhaltevermögen und deine Offenheit, mit der du all diese Erlebnisse teilst! Ich wünsche dir, dass 2025 ein bisschen ruhiger für dich verläuft…

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