Bildungsweise

Susanne Posselt

Doppelkopf

Hauptschulabschluss unter Coronabedingungen.
Oder: Warum man nicht auf zwei Hochzeiten tanzen kann

Normalerweise bin ich Klassenlehrerin einer siebten Klasse mit verschiedenen Fächern, individuellen Lernzeiten und Coaching, unterrichte außerdem Religion in mehreren Klassenstufen und bin Mitglied des Örtlichen Personalrats. Ich bin sehr gerne Lehrerin und nicht nur digital affin sondern auch in anderen Bereichen durchaus innovations- und lernbereit.

Seit Montag bin ich wieder im Präsenzunterricht, allerdings nicht in der Klasse, die ich als Klassenlehrerin begleite, sondern vertretungsweise in einer 9. Klasse, die kurz vor der Hauptschulabschlussprüfung steht. Ich weiß ja nicht, ob es im Schatten der alles bestimmenden Abiturdiskussion irgendjemand zur Kenntnis genommen hat: In diesem Jahr schreiben die Neuntklässler in Baden-Württemberg erstmals die novellierte Abschlussprüfung in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch. Während die Hauptschulabschlussprüfung im Fach Deutsch in den letzten Jahren ihren Schwerpunkt hauptsächlich im Bereich Leseverstehen hatte und die Schüler*innen allenfalls Verständnisfragen zu Sachtexten in einzelnen Sätzen und in Form von Ankreuzaufgaben beantworten mussten und sonst nur eine sehr überschaubare und gut zu bewältigende Schreibaufgabe zu bearbeiten hatten, hat sich der Fokus nun völlig auf die Themenkomplexe Schreibkompetenz (die natürlich Lesekompetenz voraussetzt), Grammatik und Sprachwissen (diese beinhaltet den Bereich Orthografie, allerdings muss man hier nicht nur richtig schreiben können, sondern auch wissen, warum man was wie schreibt) verschoben. Die Schüler*innen müssen verpflichtend eine Ganzschrift lesen, in diesem Fall ein sprachgewaltiger Jugendroman, der wörtliche Rede verwendet, ohne diese zu markieren, und dazu Verständnisfragen in vollständigen, selbst formulierten Sätzen beantworten. Sie müssen neuerdings außerdem entweder eine richtige Textbeschreibung (wahlweise eines Prosa- oder eines lyrischen Textes) anfertigen oder in Form einer linearen Erörterung Stellung nehmen. Allein der zeitliche Umfang dieser Aufgaben stellt viele der Schüler*innen vor ein schier unlösbares Problem.

Nun müssen sie sich nach sieben Wochen ohne Präsenzschule mit einer ihnen weitgehend unbekannten Lehrerin und in einer auseinandergerissenen Kleingruppe im frontalen Einzelunterricht im Schnelldurchlauf noch einmal mit all diesen Themen auseinandersetzen.

Mein Fazit nach einer Woche in einem derartigen Präsenzunterricht in Kombination mit Fernunterricht: Es ist aufreibend. Und nahezu unlösbar. Man unterschätzt zum Beispiel die Reibungsverluste, die durch die Kommunikation mit mehreren beteiligten Akteuren entstehen: Ich vertrete eine Kollegin in der 9. Abschlussklasse im Fach Deutsch. Da ich mich auch noch um meine eigentliche Klasse kümmern muss und will, ist eine dritte Kollegin dabei. Drei Lehrerinnen stimmen sich also fast täglich über Inhalte und Rückmeldungen der Schüler*innen ab. Virtuell und persönlich (natürlich mit Abstand). Da ich normalerweise nicht in der Abschlussklasse unterrichte, musste ich mich in kürzester Zeit komplett neu einarbeiten – inklusive Durcharbeiten der verpflichtenden Prüfungslektüre. Um die Kommunikation zwischen den Schüler*innen, die ja neben dem sehr reduzierten Vormittagsunterricht auch noch zu Hause arbeiten müssen, und den Kolleginnen zu vereinfachen, haben wir einen Moodle-Kurs aufgesetzt, wo sie im Sinne eines „Blended Learning“ verschiedene Lernangebote zu den Prüfungsthemen finden und miteinander und mit den Lehrerinnen in Kontakt treten können.

Ich habe in den letzten Tagen nun einiges an Zeit investiert, um den Abschlussschüler*innen die Funktionsweise der Lernplattform Moodle zu erklären, damit wir sie auch in den Ferien noch gut unterstützen können. Dazu haben wir sogar das Smartphone an den Beamer angeschlossen, um einige Besonderheiten der Moodle-App zu veranschaulichen. Eine wichtige Erkenntnis, die ich in diesem Zusammenhang hatte, ist folgende: In dieser Zeit sieht man besonders, was wirkliche digitale Kompetenz ist und was in der Vergangenheit offenbar nicht für wichtig genug gehalten wurde, um es als selbstverständlichen Unterrichtsinhalt zu etablieren: was ist eine URL? Was ist ein Browser? Wie aktualisiert man den? Warum muss man Benutzernamen und Passwörter korrekt schreiben? Wie lädt man ein Bild auf eine Lernplattform? Wohlgemerkt: Ich spreche hier von 15-jährigen Abschlussschülern, die teilweise in den letzten Wochen erst gelernt haben, wie man sich eine E-Mail-Adresse anlegt, wo man diese E-Mails auf dem Smartphone wiederfindet, wie man sie beantwortet (nicht im Betreff!) und wie man eine Bilddatei als E-Mail-Anhang verschickt.

Natürlich halte ich diese Aufgabe für überaus wichtig. Ich bin es als nun eben anwesende und verantwortliche Lehrerin den Neuntklässlern schuldig, dass sie im Rahmen meiner Möglichkeiten bestmöglich auf diesen Abschluss vorbereitet werden. Und natürlich will ich das nicht im Alleingang tun, sondern ihre gewohnte Lehrerin so gut wie möglich in diesen Prozess mit einbeziehen. Trotzdem fühle ich mich zerrissen. Dadurch, dass ich meine eigentlichen Schüler*innen nicht mehr täglich in Videokonferenzen sehe oder mit ihnen telefonieren kann, drohe ich sie zu verlieren. Zwar vertritt mich eine Kollegin, die nicht im Präsenzunterricht ist, der fehlt jedoch die tragfähige Beziehung, die ich als Klassenlehrerin habe. Und hier wird allen Beteiligten schmerzlich bewusst, dass Lernen auch bei Schüler*innen der Sekundarstufe eben nicht durch eine reine Bereitstellung von Wissensinhalten erfolgt, sondern Ergebnis einer gewachsenen Lernbeziehung ist.

Nun arbeiten wir zeitgleich Konzepte für eine weitere Schulöffnung mit Anwesenheit der Klassen im Rotationsprinzip aus. In auseinandergerissenen Kleingruppen. Mit 30 Prozent weniger Kolleg*innen. Da werden möglicherweise Erst- und Zweitklässler im Präsenzunterricht in Kleingruppen mit 1,5 Meter Abstand von Kolleg*innen aus der Sekundarstufe unterrichtet, die nun unter Umständen Buchstabeneinführungen machen müssen.

Gleichzeitig sollen und müssen wir alle den Kontakt zu denen halten, die im Wechsel zu Hause weiterlernen. Man kann aber bekanntlich nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Für tragfähige hybride Konzepte fehlt es an Ausstattung und Wissen auf allen Seiten. Das Internet in der Schule bricht zusammen, sobald mehrere Personen online sind. Den Schüler*innen zu Hause fehlen Geräte und digitale Kompetenz, mit diesen umgehen zu können. In der Schule dürfen die Schüler*innen nicht ins pädagogische WLAN, damit wir ihnen an ihren Geräten zeigen können, wie sinnvolle und notwenige Apps funktionieren und wie man diesen leistungsfähigen Miniatur-Computer namens „Smartphone“ für Lernzwecke und Videokonferenzen benutzen kann.

Da dieser Zustand vermutlich noch weit bis ins nächste Schuljahr andauern wird, stellt sich für mich die Frage, in welche Anstrengungen wir unsere Energie investieren sollen. Wäre es nicht sinnvoll, für eine wirklich ausreichende digitale Ausstattung zu sorgen, um zumindest die älteren Schüler*innen zum nachhaltigen Fernlernen zu befähigen und dafür die Notbetreuung für die Kleineren so auszubauen, dass sie zu den Kolleg*innen in der Präsenzschule eine tragfähige Beziehung entwickeln können? Und das bitte nicht im 14-tägigen Wechsel? Wenn wir es nämlich so machen, wie es momentan geplant ist, werden nicht nur die Reibungsverluste den Nutzen bei weitem übersteigen sondern auch berufstätige Eltern von den kleineren Kindern in keinster Weise entlastet werden. Wir brauchen entlastende Konzepte für Kindertagesstätten und Grundschulen, wir brauchen eine pädagogisch sinnvolle und tragfähige Notbetreuung für Kinder und Jugendliche, die über digitale Lernkonzepte nicht gut erreicht werden und darüber hinaus brauchen wir vor allem Investitionen in die digitale Ausstattung der Schulen und der dort lernenden Schüler*innen, damit zukunftsfähige Lernkonzepte sinnvoll genutzt werden können.

Ich werde natürlich weiterhin mein Bestes geben, um die mir anvertrauten Schüler*innen gut begleiten zu können. Allerdings werde ich Grenzen ziehen müssen. Nun bin ich glücklicherweise nicht mehr in der Lage, gleichzeitig zum entgrenzten Lehrerberuf in diesen Zeiten auch noch kleine Kinder betreuen zu müssen. Allerdings brauchen auch Lehrer*innen Schlaf, Erholung, Bewegung und hin und wieder Ablenkung vom Alltagsgeschäft, um ihre Gesundheit zu erhalten.

Verehrte Entscheidungsträger, fragen Sie doch bitte bei den pädagogischen Akteuren nach, bevor Sie den Eltern Konzepte anbieten, die letztlich keine große Hilfe in der derzeitigen Situation sind. Wir hätten da schon ein paar Ideen.

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1 Kommentar

  1. M. G. Dienstag, 12. Mai 2020

    Sehr geehrte Lehrerin
    Mit großem Entzücken habe ich Ihre Ausführungen gelesen und empfinde zutiefst Empathie für Sie und uns alle, die diesen Schulwahnsinn gerade durchführen und erleiden müssen.
    So sehr ich Ihre Pläne auch unterstützen würde und mich hingebungsvoll auf alle Löcher werfen würde, die zu stopfen sind, schwindet mir der Mut, die Euphorie und der Idealismus, bei jeder neuen Woche, mit neuen Vorgaben und Ideen.
    Ich hoffe nur, das Ihre und unsere Stimmen auch irgendwo gehört werden.
    M. G.

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