Ein Kollege fragte mich kürzlich auf dem Schulflur, welche Kindheitserinnerung ich an Weihnachten habe. 2024 jährt sich mein Weihnachten zum 50. Mal. Meine Kindheitserinnerungen liegen ziemlich weit zurück und ich lebe schon viel länger im Badischen als ich insgesamt am Ort meiner Kindheit gelebt habe.
Meine Antwort auf diese Frage kam jedoch sehr spontan: Ich bin ein Chorkind. Weihnachten ist für mich sehr eng verwoben mit der traditionell christlichen Chormusik und mit den Riten der evangelischen Kirche. „Macht hoch die Tür“, „Stille Nacht, heilige Nacht“ und „Ich steh an deiner Krippen hier“ sind die Melodien meines Weihnachtslebens. Später kamen dann die Chöre des Weihnachtsoratoriums hinzu: „Jauchzet, frohlocket! Auf preiset die Tage!“, „Ehre sei dir Gott!“ und „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen. Lass dir die matten Gesänge gefallen!“ Die Choreografie meiner Weihnachtserinnerungen klingt musikalisch im Gleichklang mit der Weihnachtsgeschichte nach dem Apostel Lukas. Die Texte sind Musik in meinen Ohren und sie erfüllen mich mit einem tiefen Frieden.
Egal, wie hektisch das Jahr, wie atemlos mein Alltag, wie belastend das Leben in den zwölf Monaten zuvor war: Wenn am Heiligen Abend der Baum steht und ich mich auf den Weg in die Kirche mache, wenn ich auf dem Chorpodest in Gemeinschaft mit vielen anderen Sängerinnen und Sängern stehe und die Orgel erklingt, wenn wir unsere Stimmen erheben und singen: „Macht hoch die Tür! Die Tor macht weit! Es kommt der Herr der Herrlichkeit!“ Dann beginnt Weihnachten. Dieses Weihnachten, die geweihte Nacht, der Heilige Abend entzieht sich jeglicher Logik. Für mich steht dieses Fest für einen tiefen inneren Frieden. Ich lege allen Groll beiseite, den Ärger, die Verletzungen, die Enttäuschungen und den Schmerz des vergangenen Jahres. Ein kleines hilfloses und verletzliches Kind überbringt die Botschaft dieses Festes: „Ehre sei Gott und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“ Und es beginnt bei uns.
Gabriele Hug, die Pfarrerin der Christuskirche, sprach in ihrer Predigt in der Christvesper in diesem Jahr von unserer menschlichen Begrenztheit, die uns alle vereint:
Bei diesem Satz kam mir eine andere Chorzeile in den Sinn:
„Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Es ist der Text einer Arie aus dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms. Vorlage ist der Text eines Briefes von Paulus an die Hebräer in der Übersetzung von Martin Luther.
Dort heißt es weiter: „So lasst uns nun durch ihn Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Gutes zu tun und mit andern zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott.“
Vielleicht liegt es an einem persönlichen Jahr, dass mir dieser Text in den Sinn kam: Mit einer todbringenden Diagnose konfrontiert, musste ich mich 2024 mit meiner eigenen Endlichkeit auseinandersetzen. Die Begrenztheit aller lebendigen Existenz rückte in diesem Jahr näher an mich und mein Umfeld heran. Unser geliebtes Hundemädchen Amy ist im Juli in unserem Garten für immer eingeschlafen. Dietmars Vater, mein Schwiegervater, war kurz zuvor sehr schwer erkrankt und ist wenige Tage nach seinem 85. Geburtstag am 15. November verstorben. Leben und Tod sind untrennbar miteinander verbunden. Am Anfang steht das Wunder der Geburt und die Kindheit mit all ihren magischen Momenten. Das Geheimnis von Weihnachten, die aufgeregte Spannung vor der Bescherung. Am Ende bleibt die Erinnerung und das Wissen um die eigene Begrenztheit. Mich erfüllt die Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit in diesem Jahr mit großer Demut. Mein Weg ist hier noch nicht zu Ende. Mir wurde zusätzliche Lebenszeit geschenkt. Das Wunder des Lebens und der Geburt eines kleinen hilflosen Kindes durfte ich in diesem Jahr erneut feiern. Es erfüllt mich mit Liebe und Hoffnung. Hoffnung für diese Welt mit all ihrem Schmerz und ihrer Gewalt. Mit ihrem Krieg und ihrer Hoffnungslosigkeit.
Ich wünsche mir, dass wir alle immer ein Stück Weihnachten in uns tragen. Dass wir uns verletzlich und friedlich zeigen, freundlich und liebevoll. Und dass wir uns daran erinnern, dass wir selbst ein Teil der Hoffnung sind. Dass unsere Haltung und unser Handeln einen Unterschied in der Dunkelheit der Welt machen. Frohe Weihnachten!
P.S.: Ich freue mich sehr, dass ich heute Abend in der Christuskirche Karlsruhe beim Weihnachtsoratorium mitwirken darf. Wir singen die Kantaten 1 bis 3. Das Konzert ist bereits fast ausverkauft. Wenige Restkarten gibt es noch hier.