Lernumgebungen in einer Schule der Vielfalt
Die Zeit zwischen den Jahren ist nicht nur Familienzeit. Es ist auch eine Zeit der Besinnung, des Nachdenkens und der Reflexion. Ich nutze diese Zeit, um das Jahr Revue passieren zu lassen und einige Erkenntnisse zu formulieren.
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle nun endlich den Bericht über meine letzten Lernreisen zu „besonderen Schulen“ veröffentlichen. Eine dieser Schulen, deren Konzept ich im November 2023 erleben durfte, war die Alemannenschule in Wutöschingen. Eine weitere Schule war die Gartenschule Karlsruhe mit ihrem jahrgangsgemischten Montessorikonzept. Ich habe diese Schulen bewusst noch vor meinem Wechsel in das Schulleitungsteam der Nordstadtschule Pforzheim besucht, weil ich mir vor Ort anschauen wollte, wie Lernen hier organisiert wird. Es sind beides Schulen, die herkömmliche Konzepte der Einteilung in Jahrgangsklassen, Fachunterricht und 45-Minuten-Takt aufgelöst haben.
Bereits während ich nach Worten für den Anfang meines Berichtes suchte, merkte ich jedoch, dass ich weit ausholen muss. Es wurde mir bewusst, dass es wichtig zu wissen ist, warum ich schon so lange durch Besuche in anderen Schulen und nach veränderten Perspektiven und Antworten auf bestimmte Fragen suche und warum ich der Überzeugung bin, dass uns diese Antworten auf der Suche nach Lösungen für drängende bildungspolitische Fragen weiterbringen könnten.
Eine dieser Fragen ist:
Wie kann man Lernen in heterogenen Gruppen organisieren?
Oder anders formuliert:
Wie kann es gelingen, Lernangebote in größeren Gruppen so zu organisieren, dass alle – in ihrer jeweiligen Unterschiedlichkeit – möglichst große Lernfortschritte machen?
Die Berichte über meine Besuche in Schulen mit besonderen Lernsettings werden folgen. Zunächst jedoch einige Vorbemerkungen:
Die gegenwärtige Diskussion vor dem Hintergrund von PISA und Co.
In der bildungspolitischen Diskussion ist es bisweilen so, dass die Rückkehr zu früheren – scheinbar bewährten – Lösungen als Königsweg zur Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen angepriesen wird. Zurück zur Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung nach Klasse 4, zurück zur passgenauen Sortierung der Kinder in verschiedene Begabungs- und Leistungsniveaus, zurück zu homogenen Gruppen. Die Kinder sollen sortiert werden, um ihre Vielfalt in der Großgruppe minimieren zu können. Gleichzeitig sollen sie – vor allem im Gymnasium – wieder mehr Zeit erhalten. G9 heißt das Zauberwort, das für weniger Stress und mehr Konzentration auf vertiefte Bildungsinhalte sorgen soll. Die Schule, die hier skizziert wird, soll wieder (?) mehr Leistung fordern und fördern. Dabei wird die Vermessung der Unterrichtsqualität als der Königsweg zu einer höheren Schulqualität angepriesen. Es wird evaluiert und standardisiert, messbare Ziele formuliert, verglichen und regelmäßig Bilanz gezogen. „Guter Unterricht“ nach Rezeptbuch beinhaltet „Klassenführung“, „konstruktive Unterstützung“ und die „kognitive Aktivierung“.
Doch welche der formulierten Lösungsvorschläge sind tatsächlich zielführend?
Bevor ich meine ganz persönliche Einschätzung zu diesen Vorschlägen formuliere, möchte ich einige Einblicke in biografische Wegpunkte geben.
Wie lernen Kinder?
Mich persönlich treibt die Frage nach dem Umgang mit Vielfalt in der Schule spätestens seit dem Beginn meines Studiums an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe um. Damals kam ich nach einer längeren Erziehungspause zurück an die Hochschule. Ich war zu diesem Zeitpunkt eine Spätstudierende mit Anfang 30 und hatte bereits vier eigene Kinder. Ursprünglich war mein Plan, Gymnasiallehrerin zu werden. Sprache, Literatur und historische Quellen waren meine Leidenschaft. Ich wollte mit wissbegierigen Jugendlichen meine Begeisterung für diesen Wissenskosmos teilen. Ich wollte Wissen vermitteln. Zwischen 1996 und 2000 hatte ich an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg Geschichte und Germanistik studiert und gerade noch rechtzeitig vor der Geburt unseres ältesten Sohnes erfolgreich die Zwischenprüfung absolviert.
Die Zäsur durch die Geburt und die ersten Jahre meiner Kinder ließen mich jedoch mehr und mehr daran zweifeln, ob der ursprünglich eingeschlagene Weg der richtige war.
Fasziniert beobachtete ich, wie jedes meiner Kind seinen eigenen Weg ging und wie unterschiedlich sie lernten. Ein Kind sprach früh, bewegte sich dafür erst so spät fort, dass ich mir bereits Sorgen machte, ob es jemals seinen bequemen Beobachtungsposten verlassen würde. Eines war Weltmeister im Puzzeln, sprach aber nur das Nötigste. Ein anderes lief und kletterte und turnte, fand überall Anschluss, während ein anderes sich schwer damit tat, Freunde zu finden und lieber für sich blieb.
Die veränderte Perspektive durch die Augen meiner Kinder stellten vieles in Frage. Entspricht die traditionelle Schule mit ihren gleichschrittigen Großgruppenangeboten eigentlich der natürlichen Lernentwicklung von Kindern?
Mit diesem neuen Blick kam ich im Herbst 2006 an die pädagogische Hochschule in Karlsruhe. Hier wollte ich mein Studium fortsetzen. Meine jüngste Tochter war gerade zwei Jahre alt geworden und ich hatte mich in den neu etablierten Teilzeitstudiengang eingeschrieben, den es nur für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen gab. Weil meine ursprüngliche Fächerkombination an der pädagogischen Hochschule nicht mehr möglich war, startete ich im Wintersemester mit neuen Studienfächern (nur das Fach Deutsch behielt ich) und einem neuen Stufenschwerpunkt: Grund- und Hauptschullehramt mit dem Hauptfach Kunst, dem Leitfach Deutsch und dem sogenannten „affinen“ Fach Evangelische Religionspädagogik.
Insbesondere das vertiefte Studium der Pädagogik interessierte mich sehr und schon bald war ich selbst als Tutorin im Fachbereich Allgemeine Pädagogik tätig und erwarb Zusatzzertifikate im Bereich Lehr-Lernmethoden und Medienpädagogik. Ich reflektierte das Gelernte immer vor dem Hintergrund meines eigenen Lernens, der Beobachtung meiner Kinder und meiner zunehmenden eigenen praktischen Erfahrungen in der Gestaltung von Lernsettings für Großgruppen.
Letzteres wird meiner Einschätzung nach in der Diskussion um „Gute Schule“ oft vergessen: Schule organisiert Lernen in größeren Gruppen. Dabei setzt sie Grundkompetenzen voraus, etwa eine gewisse Selbstregulationsfähigkeit, Durchhaltevermögen und Sozialkompetenz.
Lernreisen
Seither bin ich auf der Reise. Ich besuche Schulen. Schulen, die neue Wege gehen. Schulen, die Lernen anders organisieren. Dass die Idee einer Lernumgebung, die selbstgesteuertes Lernen ermöglicht, nicht neu ist, zeigt die Montessoripädagogik. Als sich 2007, gleich zu Beginn meines Studiums an der pädagogischen Hochschule in Karlsruhe die Möglichkeit ergab, sich aktiv um das erste Orientierungspraktikum an einer Montessorischule zu bewerben, habe ich diese Möglichkeit genutzt. In den folgenden Jahren habe ich viele Schulen besucht. Große und Kleine, solche mit sehr offenen und andere mit geschlosseneren Konzepten. Ich habe Praktika in Privatschulen mit privilegierten Kindern und in staatlichen Schulen in „herausfordernder“ Lage mit besonderen pädagogischen Aufgaben absolviert. Als Lehrerin habe ich in ländlichen und städtischen Schulen gearbeitet. Ich habe Schule durch die Brille unterschiedlicher Rollen erlebt: Als Mutter, als Schulbegleiterin, als Praktikantin, als Referendarin, als Lehrerin, als Beraterin, als Fortzubildende und als Fortbildnerin. Manchmal muss man einem Ort von unterschiedlichen Seiten betrachten, um sich seiner Komplexität zu nähern. Ich habe gleichzeitig den Siegeszug des Smartphones erlebt und die Entwicklung vom Overheadprojektor hin zum digital vernetzten Klassenzimmer. Während ich in meiner eigenen Grundschulzeit noch seitenweise Texte von der Tafel ins Heft abschrieb, sammelten meine eigenen Kinder in ihrer Grundschulzeit bereits stapelweise Arbeitsblätter, deren Lücken auszufüllen waren und schrieben viel weniger mit der Hand. Smartphones gab es noch nicht. Inzwischen sammle ich Unterrichtsinhalte auf digitalen Pinnwänden und stelle meinen Schülern den Internetlink per QR-Code zur Verfügung. Spätestens mit der Coronapandemie gingen die Schulen ins Netz, Lernplattformen wurden befüllt und uns dämmerte, welche Revolution die Schulwelt in den letzten 15 Jahren verschlafen hatte.
Das Montessorikonzept gibt es immer noch, davon konnte ich mich im Rahmen meiner letzten Lernreise im November 2023 überzeugen. Durchgesetzt hat es sich nicht.
Viele andere Schulen arbeiten weitgehend wie vor 30 Jahren. Die Unterrichtszeit ist in Fächer und 45-Minuten-Einheiten aufgeteilt. Lehrkräfte arbeiten nach dem Deputatsmodell. Alle Kinder einer Klasse sitzen in einem Klassenraum, der – mal mehr, mal weniger – in verschiedene Funktionsbereiche aufgeteilt ist, meist ist jedoch nur wenig Platz vorhanden, sodass der Raum eher an einen Hühnerkäfig in schlechter Haltungsform erinnert, als an eine vielfältig anregende Lernumgebung.
Was ist in Wutöschingen und in der Gartenschule Karlsruhe nun anders? Können sie als Modelle für eine neue – eine andere Schule – dienen? Ich kann so viel vorab sagen: Es braucht ein Umdenken in größerem Stil. Wer versucht, Kinder in einer Gesellschaft von heute für eine Welt von morgen mit einer Schule von gestern vorzubereiten, wird scheitern. Wir brauchen den Mut, den Teamgeist und die Experimentierfreude derer, die bereits neue Wege gegangen sind. Wir brauchen aber auch die Unterstützung, die Vorstellungskraft und den Wagemut politisch Verantwortlicher, die die Rahmenbedingungen für eine neue Schule durch ihre demokratische Entscheidungskompetenz schaffen können.