Bildungsweise

Susanne Posselt

Die Alemannenschule Wutöschingen

Eine staatliche Gemeinschaftsschule. Oder: Was ist der Kern der Gemeinschaftsschule?

Wer mich kennt, weiß, dass die Gemeinschaftsschule mein Herzensprojekt ist. Es hätte in meiner bisherigen Laufbahn als Lehrerin viele Gelegenheiten gegeben, in eine andere Richtung abzubiegen.

Aber ich bin immer noch da.

Die Idee der Gemeinschaftsschule überzeugt mich und hält mich dort, wo ich bin. Wahrscheinlich ist Stefan Ruppaner, der Schulleiter der Alemannenschule in Wutöschingen, so eine Art Bruder im Geiste.

Wenn man in Baden-Württemberg nach dem Stichwort Gemeinschaftsschule sucht, stößt man unweigerlich auf seinen Namen.

Wir sind beide überzeugte Vertreter:innen einer Schule der Vielfalt und einer Schule der unterschiedlichen Wege, die aber in Gemeinschaft gegangen werden. Wir stehen für die Idee des gemeinsamen Lernens, weil wir es für wichtig halten, dass wir Lernen als gemeinsamen Wachstumsprozess und nicht als Konkurrenzveranstaltung begreifen. Diese Schule des gemeinsamen Lernens – mit der übrigens keinesfalls Gleichmacherei oder eine wie auch immer geartete „Einheitsschule“ gemeint ist – könnte eine Art Modell für das demokratische Gemeinwesen sein. Sie pflegt und respektiert die Vielfalt und gibt ihr Raum. Aber wie soll das in der Praxis funktionieren?

Zwar gibt es inzwischen mehr als 300 Schulen in Baden-Württemberg, die sich Gemeinschaftsschule nennen und die eine Art „kleinster gemeinsamer Nenner“ eint. Sie bieten Lernen auf unterschiedlichen Niveaustufen mit verschiedenen Abschlusszielen an, verzichten in den unteren Jahrgängen weitgehend auf Noten und beschreiben stattdessen die individuelle Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler. Sie bieten an mindestens drei Tagen ein ganztägiges Lernen an und haben neben dem Fachunterricht Stunden für gemeinsames Üben und Lernen. Das Coaching und die individuelle Lernentwicklungsbegleitung sind das Herzstück der Gemeinschaftsschule. Leider fallen letztere in diesen Zeiten oft der Mangelverwaltung zum Opfer, da sie nicht mit Ressourcen unterfüttert sind. Ich bin inzwischen jedoch davon überzeugt: Je brüchiger und beliebiger familiäre Strukturen werden, je weniger Zeit die Gesellschaft ihren Kindern widmet, umso wichtiger wird die gesellschaftliche Integrationsfunktion von Schule. Es bleibt bei der gegenwärtigen Entwicklung kein anderer Ausweg. Schule muss sich verändern.

Mein Traum für die Zukunft ist, dass wir als Lehrkräfte und als Schulen voneinander lernen und dass unsere Institute für die Lehrkräftefortbildung und Qualitätssicherung Strukturen schaffen, die es Schulen ermöglichen, sich zu vernetzen und zu Family of Schools zusammenzuwachsen. Dazu braucht es Zeit und Mut, Vertrauen und ein neues Verständnis von (lebenslangem) Lernen.

Es war lange überfällig, dass ich diese besondere Schule, deren Entwicklung und Konzept ich bereits lange verfolge, endlich einmal besuche.

Da eine meiner Studienkolleginnen des MUSE-Studiengangs seit Jahren an der Alemannenschule arbeitet und das Konzept mit entwickelt hat, war ein Besuch jenseits der offiziellen Hospitationszeiten möglich. Danke Kerstin, für deine Gastfreundschaft und die Einblicke in deine Arbeit.

Was ist anders an dieser Schule, die so vieles anders macht?

Im folgenden möchte ich wesentliche Bereiche beleuchten, die diese Schule besonders machen und die das Lernen dort nachhaltig verändert haben. Ich teile Eindrücke meiner Hospitation in Zusammenhang mit Erkenntnissen, die ich bereits zuvor im Rahmen von Vorträgen (u.a. durch Stefan Ruppaner, Valentin Helling und Johannes Zylka), Berichten und Workshops zum Konzept der Alemannenschule gewinnen konnte. Die folgende Grafik entstand im Rahmen eines Vortrages mit anschließendem Workshop, den Stefan Ruppaner 2022 im MUSE-Studiengang angeboten hatte.

Raum

Das Auffälligste an der Alemannenschule ist sicher der Raum. Er zeigt sich radikal anders, als man es in einer Schule erwarten würde. Hier sucht man vergeblich Klassenzimmer, die bis zu 30 gleichaltrige Kinder und Jugendliche in einen Raum pferchen und im 45-Minuten-Takt wechselnde Inhalte bearbeiten lassen. Vielmehr findet man offene Räume, Lerninseln und Lernlandschaften. Sie zeigen sich so vielfältig wie die Kinder, die sich innerhalb dieser Landschaften bewegen. Die Stimmung ist hier ruhig und leise.

Das war nicht schon immer so. Man kann die Entwicklung der Schule am besten im grünen Haus nachvollziehen. Von außen sieht es aus, wie ein gewöhnlicher Schulbau aus den Sechziger Jahren.

„Bring bitte Hausschuhe mit.“

Zunächst fällt auf, dass es in allen Häusern, auch im grünen Haus, zentrale Garderobenräume gibt, wo man Jacken und Straßenschuhe hinterlässt. Die Räume sind wohnlich und mit Teppichboden ausgekleidet. Man kann sich auf den Boden setzen. Die Atmosphäre ist warm und gemütlich, wie im heimischen Wohnzimmer.

Das Schulgebäude wurde radikal entkernt. Im unteren Stockwerk, dem Marktplatz, fehlen fast sämtliche Wände. Dafür gibt es transparente Vorhänge, die bei Bedarf Nischen mit gemütlichen Sitzmöbeln abtrennen können. Zentral im Raum lädt ein großer Tisch mit Barhockern zum gemeinsamen Arbeiten ein. In den Ecken gibt es Nischen mit Sitzpolstern. In einer dieser Nischen übt der Schulleiter, Stefan Ruppaner gerade mit einigen Jugendlichen einen TikTok-Tanz ein. In einem weiteren Bereich findet englische Konversation statt. Es herrscht überall eine konzentrierte Geschäftigkeit.

Im oberen Stockwerk finden sich, ausgehend von einem großen, zentralen Flurbereich, die Lernateliers. Hier hat nicht nur jede Schülerin und jeder Schüler, sondern auch jede Lehrkraft einen eigenen festen Arbeitsplatz. In diesem Bereich herrscht absolute Ruhe. Auch hier gibt es in den Flurbereichen bequeme Sitzmöbel und Teppichboden, die Räume mit den Arbeitsplätzen wirken dagegen eher wie Großraumbüros. Man sieht: Hier wird gelernt und gearbeitet.

Material

Ein wesentliches Element einer gelingenden Lernumgebung ist ein ansprechendes Material.

Zwar ist vieles spätestens seit der Coronapandemie in den virtuellen Raum gewandert und hat sich dort in Form des Materialnetzwerkes zu einer vielfältigen und lebendigen Lernlandschaft entwickelt, aber der Beginn ist im grünen Haus noch gut sichtbar.

Hier steht im oberen Stockwerk im großen Flur das Herzstück des individualisierten Lernens: Das Material. Es ist geordnet und strukturiert nach Fächern und Themen. Deutsch ist rot, Mathematik blau und Englisch gelb.

Wer in der reformorientierten Grundschulpädagogik verortet ist, fühlt sich gleich zu Hause.

In den Hauptfächern wurden sämtliche Bildungsplaninhalte themenorientiert in Teilziele aufgegliedert, die weitgehend eigenständig mit Hilfe des zur Verfügung stehenden Materials erarbeitet werden können. Es braucht hier kein Lernen im Gleichschritt, wesentliche Inhalte können die Schüler:innen sich selbstständig oder in selbstgewählten Kleingruppen aneignen. Dabei können sie stets auf die Begleitung und Beratung erfahrener Lehrkräfte zurückgreifen.

Regeln

Dass ein solch entgrenztes Lernen Regeln braucht, versteht sich von selbst. Diese Regeln gelten für alle. Jeder beginnt als Neustarter und kann sich Freiheitsgrade erarbeiten. Man muss also zunächst beweisen, dass man mit der Offenheit und Freiheit umgehen kann. Grundsätzlich gilt: Wer mehr Führung und Leitung braucht, arbeitet unter Anleitung und Aufsicht von Lehrkräften. Da das Streben nach Freiheit und Selbstständigkeit das Maß jeder Pädagogik sein sollte und das Ziel von Erziehung ist, sich selbst überflüssig zu machen, können die Lehrkräfte darauf zählen, dass die Schüler:innen immer danach streben werden, mehr Eigenständigkeit und Eigenverantwortung zu erlangen.

Das Graduierungssystem mit unterschiedlichen Freiheitsgraden ist ein weiteres Herzstück der Alemannenschule.

Zeit

Nicht unmittelbar sichtbar ist ein veränderter Umgang mit schulisch gebundener Zeit. Zwar gibt es auch in der Alemannenschule einen Anfang und ein Ende von Unterricht, es gibt Pausen und es gibt auch hin und wieder Plenumsphasen, in denen eine Lehrkraft etwas präsentiert oder erklärt. Einen klassischen Stundenplan mit ausgewiesenen Fächern findet man jedoch nicht.

Als ich zu Beginn meines Besuchs auf den offiziellen Schulstart wartete, begegnete mir dieses veränderte Zeitverständnis in Form von kraftvollen Klängen aus dem Keller des Wutöschinger Rathauses. Hier probten bereits um 7.30 Uhr die Blechbläser.

Musik findet immer morgens vor dem Start des restlichen Schulbetriebes statt. Erst danach finden sich alle zur „Lernzeit“ an ihren Arbeitsplätzen oder auf dem Marktplatz in den verschiedenen Häusern ein.

Grundlage für dieses Zeitverständnis ist ein sogenannter „Idealer Stundenplan“, der immer für die jeweiligen Jahrgänge immer gleich bleibt. Inputs – Unterricht in dem Sinne, wie wir ihn uns vorstellen – gibt es pro (Haupt-)Fach und „Jahrgang“ bloße einmal pro Woche. Da diese Stunden immer gleich liegen, ist es kein Problem, wenn Schüler:innen des Jahrgangs 6 zum wiederholten Mal einen Input mit Inhalten des Jahrgangs 5 besuchen wollen.

Lehrerarbeitszeit

Darüber hinaus ist man in Wutöschingen einen weiteren radikalen Schritt gegangen: Den Abschied vom Deputatsmodell der Lehrkräfte. Stefan Ruppaner bezeichnet das Konzept als „kreative Auslegung von (behördlichen) Anweisungen“, offiziell gilt natürlich das Deputatsmodell: Alle Lehrkräfte haben sich freiwillig bereiterklärt, nach einem anderen Zeitmodell zu arbeiten, das bei vollem Deputat eine Anwesenheit vor Ort von 35 Stunden mit 12 Stunden „Unterricht“ im Sinne von Inputs, außerdem 2 Nachmittage im Trimester im Rahmen der Clubs vorsieht. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Lehrkräftearbeitszeit sich in den vergangenen Jahren stark verändert hat und die Zeit, die für Unterricht und unterrichtsnahe Tätigkeiten verwendet wird, immer geringer wird.

Gruppe

Man könnte nun einwenden: Wo bleibt denn das soziale Lernen bei all der Individualität? Wo ist die Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, wo findet Gemeinsames statt?

Was zunächst hier und da wuselig und beliebig erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ausgeklügeltes Konzept von jahrgangsgemischten Gruppen, die festen Coaches zugeordnet sind. Je fünf Schüler:innen pro Jahrgang bilden eine Gruppe aus insgesamt 15 Schüler:innen (Jahrgang 5 bis 7 und Jahrgang 8 bis 10), die über drei Jahre hinweg von einer festen Lehrperson begleitet werden. Je vier dieser altersgemischten Lerngruppen (je zwei von 5 bis 7 und zwei von 8 bis 10) bilden eine Quadriga mit Lehrkräften, die idealerweise die Hauptfächer abdecken und die sich die anstehendenden Inputs durch interne Absprachen aufteilen.

Lernen in Clubs und „Lernen durch Erleben“

Unterricht in klassischen „Nebenfächern“ sucht man an der Alemannenschule vergebens. Sie gehen im Nachmittagsbereich in einem ausgeklügelten System von „Clubs“ auf, die in Trimestern projektartig angeboten werden. Da gibt es den Heimat- und den Bienenclub, Clubs zu Vulkanismus oder lebenden Tieren. Diese Clubs können überall im Dorf stattfinden und es ist auch möglich, in dieser Zeit eigene Projekte zu verwirklichen. Entscheidend ist hierbei, dass Lernen in natürlichen Zusammenhängen stattfindet und nicht kleinteilig und künstlich in Fächeraufteilungen organisiert ist. Das Erleben, der forschende und erfahrungsgeleitete Zugang sind zentral. Dieses „Lernen durch Erleben“ bildet neben dem im Vormittagsbereich gepflegten selbstorganisierten Lernen (SoL) den zweiten Flügel des Schmetterlings, der für die an der Alemannenschule praktizierte Schmetterlingspädagogik steht.

Haltung

Einen wesentlicher Baustein dieser hier praktizierten Schmetterlingspädagogik ist nicht sichtbar, aber spürbar: Es ist eine von Vertrauen getragene Haltung den Menschen gegenüber. Es gibt ein von allen getragenes Grundvertrauen, dass Jugendliche lernen wollen, dass sie sich Ziele setzen können und dass sie diese Ziele eigenständig und mit Hilfe anderer erreichen können.

Die ausgeklügelte Lernumgebung setzt voraus, dass Lehrkräfte sich nicht als Einzelkämpfer verstehen, sondern, dass sie im Team ständig kooperativ an der Weiterentwicklung der Umgebung arbeiten. Es gibt dafür einen festen Kooperationsnachmittag, den dem die Lehrkräfte sich – wiederum getragen von einem Grundvertrauen durch die Schulleitung – in Teams zur zielorientierten Besprechung und Weiterentwicklung der Lernumgebung treffen. Hier wird sichtbar, dass auch wir als Lehrkräfte an unserer eigenen Rolle und an unserem Selbstverständnis arbeiten müssen, wenn wir ein anderes Lernen ermöglichen wollen.

Ein Blogbeitrag wie dieser kann allenfalls Eindrücke vermitteln. Mein Besuch war bei allem, was ich vorher schon wusste, derart eindrucksvoll beeindruckend, dass ich kaum Worte finde, um das zu beschreiben, was an diesem Lernort spürbar war. Sicher ist vieles nicht direkt übertragbar. Das Wutöschinger Konzept ist komplex und über Jahre durch das außerordentliche Engagement und Zusammenwirken vieler mutiger Akteure gewachsen. Es zeigt aber: Auch im staatlichen Schulsystem geht vieles.

Mein Wunsch für das kommende Jahr ist: Lasst uns gemeinsam neue Möglichkeitsräume öffnen. Lasst uns in gegenseitigem Vertrauen Schule zu einem Ort des positiven Wachstums machen. Ich bin dabei. Ihr auch?

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3 Kommentare

  1. Valentin Helling Sonntag, 31. Dezember 2023

    Hallo Susanne! Toller Bericht. Der Richtigkeit halber möchte ich dich allerdings auf einen kleinen Fehler hinweisen: alle Lernpartner beginnen im Graduierungssystem als Starter, nicht als Neustarter. Somit erhält JedeR einen Vertrauensvorschuss… LG Valentin

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