Bildungsweise

Susanne Posselt

Vergangen

Es war immer ein Highlight meiner Kindheit, wenn wir nach Stuttgart in die Wagenburgstraße fuhren. In die große Stadt mit den engen Straßenschluchten zu meinem Onkel und meiner Tante. Mein Onkel, der älteste Bruder meines Vaters, war laut und lustig und er sprach schwäbisch. Es klang gemütlich und es war auch gemütlich in der Etagenwohnung in der Stadt, die vollgestopft war mit Videokassetten. Mein Onkel war nämlich ein Pionier, was neue Medien betraf. Er liebte das Kino und während andere Bücher sammelten, baute er sich eine beeindruckende und bestens sortierte Privatvideothek auf. Er besaß alle Kinofilme und wir wussten: Wenn wir ihn besuchten, dann durften wir fernsehen bis zum Umfallen.

Er war auch ein großer Fan der Monarchie, besonders der österreichisch-ungarischen. Wien war seine Sehnsuchtsstadt und Franz-Josef sein Held. Als Jugendliche war auch ich fasziniert von dieser Welt und dieser Zeit. Nach den berühmten Sissi-Filmen las ich jahrelang alles, was ich über die Habsburger des 19. Jahrhunderts in die Finger bekam. Das teilten wir und als ich vor gut 3 Jahren zu ersten Mal in meinem Leben in den kaiserlichen Gemächern in Wien war, da musste ich an ihn denken.

Dass ich seinerzeit Geschichte studierte, weil ich unbedingt wissen wollte, wie man Licht in die Dunkelheit vergangener Tage bringt, das habe ich auch ihm zu verdanken.

In der vergangenen Woche besuchten meine Schwester und ich ihn und meine Tante – ziemlich spontan. Wir hatten jahrelang wenig Kontakt, obwohl er gar nicht weit weg wohnte. Es war ja auch immer was anderes. Wir besuchten ihn, es gab Käsekuchen und wir wussten gleich: Da neigt sich ein Leben dem Ende zu. Es war ein wunderschöner Nachmittag. Wir haben gelacht und erzählt und alte Fotos betrachtet. Wir haben auch Fotos gemacht, als Erinnerung an uns.

Heute Nacht ist er gestorben.

Adieu, lieber Onkel.

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