Bildungsweise

Susanne Posselt

Schule in Finnland

Die Schule, an der ich seit inzwischen einem Jahr stellvertretende Schulleiterin bin, nimmt am Programm Erasmus+ teil. Hierdurch soll der persönliche Austausch von Schulen in Europa gefördert werden. Lehrkräfte können an Sprachkursen im europäischen Ausland teilnehmen, man besucht sich gegenseitig im Rahmen eines Job Shadowings in der Schule und auch Schülerinnen und Schüler können die Partnerschule im Rahmen eines Schüleraustauschs besuchen. Als Schulleitung hat man normalerweise nicht so oft die Gelegenheit, den eigenen Kosmos zu verlassen und über den Tellerrand zu blicken. Oliver und ich hatten jedoch bereits im Januar entschieden, dass wir uns in diesem Jahr Inspirationen und neue Blickwinkel gönnen möchten. Die Schulleitung verliert sich leicht im Alltagschaos. Da die Gesellschaft sich in einem ständigen Wandel befindet, muss Schule sich immer wieder neu erfinden und sich Impulse von außerhalb holen. Ich bin sehr glücklich, dass ich trotz meiner krankheitsbedingten Auszeit an dieser Reise in den hohen Norden teilnehmen konnte. Wir kehren mit vielen spannenden Eindrücken im Gepäck wieder nach Hause zurück.

Helsinki

Wenn man zum ersten Mal eine fremde Stadt reist, will man sich üblicherweise einen Überblick verschaffen und auch einige kulturelle Eindrücke sammeln. Da wir bereits am Samstag stressfrei angereist waren, hatten wir am Sonntag Vormittag noch etwas Zeit, einige wichtige kulturelle Einrichtungen in Helsinki zu besuchen. Da ich Städte immer gerne mit meinem spezifischen Lehrerinnenblick betrachte, war schnell klar, dass wir wenigstens ein Museum und dann die berühmte Bibliothek besuchen mussten. Am Abend stand ein erstes Treffen mit unserer Erasmus-Gruppe und der Besuch des Weihnachtsmarktes auf dem Programm.

Kiasma – Das Museum für zeitgenössische Kunst

Kiasma ist die finnische Nationalgalerie für zeitgenössische Kunst. Nicht nur die Kunstsammlung, auch das vom amerikanischen Architekten Steven Holl konzipierte Gebäude ist sehenswert.

Die Oodi Zentralbibliothek

Die Oodi Zentralbibliothek lässt nicht nur das Herz von ausgesprochenen Bücherliebhaber:innen höher schlagen. Das Gebäude mit der markanten Architektur gilt als „Wohnzimmer“ Helsinkis und bietet so viel mehr als eine herkömmliche Bibliothek: Man kann verweilen, Kaffee trinken, arbeiten oder einen Song aufnehmen, nähen oder etwas auf dem 3D-Drucker kreieren, gemeinsam in einem der vielen Konferenzräume tagen oder eine Partie Schach im Erdgeschoss spielen. Ein faszinierendes Gebäude mit einladendem Charakter. In einem Land, das im Winter gerade einmal auf sechs Sonnenstunden kommt und die Menschen mit Wind und klirrender Kälte zurechtkommen müssen, braucht es Innenräume, in denen sich die Menschen begegnen können. Mit dem Besuch in der Oodi-Zentralbibliothek haben wir einen lebendigen Raum erlebt, den sogar Jugendliche aufsuchen.

Das finnische Schulsystem: Erste Eindrücke

Nachdem sich unsere Gruppe am 1. Dezember im Rahmen einer abendlichen Stadtführung durch das weihnachtlich beleuchtete Helsinki, einem gemeinsamen Weihnachtsmarktbesuch mit Glögi und einem Essen in einem traditionellen Restaurant zum ersten Mal begegnet war, ging es am 2. Dezember los: Zunächst erhielten wir einen einführenden Vortrag zum finnischen Schulsystem. Finnland galt nach den ersten PISA-Rankings als Musterland erfolgreicher Bildung. PISA steht für Programme for International Student Assessment. Dabei handelt es sich um von der OECD entwickelte und durchgeführte Schulleistungsstudien, mit denen alle drei Jahre Kenntnisse von 15-jährigen Schüler:innen im Lesen, in Mathematik und den Naturwissenschaften gemessen werden. Im Jahr 2001 lagen die Ergebnisse von Finnland noch durchweg im Spitzenfeld. Viele Lehrkräfte aus der ganzen Welt pilgerten in das Land, um die Schulen dort zu besuchen. Inzwischen sind die Ergebnisse der finnischen Jugendlichen deutlich abgerutscht und man sucht nach Gründen hierfür.

In Finnland lernen alle Kinder und Jugendlichen von der ersten Klasse bis zum Jahrgang 9 zusammen. Die Schulzeit beginnt für finnische Kinder im Alter von 7 Jahren mit nur wenigen Unterrichtsstunden. In den meisten Familien bleibt ein Elternteil zu Hause, bis das jüngste Kind drei Jahre alt ist. Danach gehen die meisten finnischen Kinder in einen Kindergarten oder werden von einer Nanny betreut. Es gilt das Motto: Die Kinder sollen so lange wie möglich Kind bleiben und es soll kein Druck durch die Schule ausgeübt werden. Verpflichtende Noten werden erst ab Jahrgang 8 vergeben. Nach der 9. Klasse können die Jugendlichen entweder eine General Upper Secondary School besuchen und sich danach an einer Universität bewerben oder sie besuchen eine eher berufspraktisch orientierte Vocational School. Auch danach können sie noch ein Studium anstreben. 2016 gab es in Finnland eine große Lehrplanreform. Seither sind zweimal im Jahr verpflichtende jahrgangsübergreifende Projektwochen durchzuführen, die sich mit zuvor festgelegten „Phänomenen“ beschäftigen. Hierbei könnte es sich beispielsweise um das Phänomen Schnee, aber auch einen Komponisten, ein Land oder anderes handeln. Im Rahmen dieser Projektwochen müssen sich dann alle Fächer mit den zuvor festgelegten Phänomen beschäftigen. Den Schülerinnen und Schülern wird dabei viel Vertrauen geschenkt und sie werden in ihrem Lernen begleitet. Generell wird viel Wert auf gemeinsames und projektorientiertes Lernen gelegt. Handwerkliche und künstlerische Fächer genießen einen wichtigen Stellenwert. Dabei ist auch Digitalität selbstverständlicher Bestandteil des Schulbildung, Lernen wird in E-Portfolios dokumentiert und informationstechnische Kompetenzen sind Querschnittskompetenzen, die systematisch aufgebaut werden. Dem Thema „Wellbeing“ wird viel Aufmerksamkeit geschenkt: Schule soll ein Wohlfühlort sein und gibt eine große Anzahl an pädagogischem Unterstützungspersonal. Neben freiwilligen Schulhelfern (meist ehemalige Lehrkräfte) und Pädagogischen Assistent:innen gibt es „School Nurses“, Schulpsycholog:innen und spezielle Coaches, die gegen Ende der Schulzeit den Übergang in die weiterführende Bildung vorbereiten.

Das Variaa Vocational College in Vantaa

Die Einführung in das finnische Schulsystem und die kooperativen Phasen innerhalb der Erasmus+ Gruppe fanden in den Räumen eines Vocational College für „Practical Nurses“ statt. Das Gebäude soll im kommenden Jahr renoviert werden. Im Rahmen eines Rundganges konnten wir uns dennoch einen guten Eindruck über diesen Teil des finnischen Bildungssystems verschaffen. Besonders beeindruckend fanden wir: Die Schule verfügt nicht nur über einen bequemen Aufenthaltsraum mit Sofas, sondern auch über eine Sauna und einen bestens ausgestatteten Fitnessraum für die Lehrkräfte. Dass Wellbeing auch an den Schulen der beruflichen Qualifikation für ältere Jugendliche eine wichtige Rolle spielt, wurde hier deutlich: Es gibt einen speziellen Raum zur Entspannung und sensorischen Wahrnehmungsschulung, an vielen Stellen befindet sich bequemes Mobiliar und Möglichkeiten zum bewegten Lernen, außerdem steht für die Schüler:innen ein Schulpsychologe zur Verfügung, der regelmäßig auch Befragungen zum psychischen Wohlbefinden durchführt. Diese Schule ist international, was eine Weltkarte an der Wand verdeutlicht, auf der mit Pinnnadeln die Herkunftsorte der Schüler:innen markiert sind.

Vattuniemen Koulu (Grundschule, Klasse 1 bis 6)

Die Vattuniemen Koulu ist eine moderne städtische Grundschule im Westen von Helsinki. Wir wurden von der Schulleiterin empfangen, einer elegante Erscheinung mit sehr bestimmtem Auftreten. Die Schule ist noch recht neu und hat ein interessantes und modernes Raumkonzept mit flexiblen Bereichen. Die komplette Schule ist hell und gemütlich eingerichtet und alle Menschen, die sich dort aufhalten, ziehen ihre Straßenschuhe im Untergeschoss aus, wo sich eine große Schuhgarderobe befindet. Auch wir als Gäste mussten unsere Schuhe ausziehen bzw. bekamen Schuhüberzieher. Jeder Jahrgang hat einen eigenen, in sich geschlossenen Bereich mit verschiedenen, teilweise offenen, immer aber flexiblen Räumen. Es gibt durchaus auch noch die „klassischen“ Klassenzimmer, diese haben jedoch Wände aus Glas, vor die bei Bedarf und zur besseren Konzentration Vorhänge gezogen werden können. Es gibt Bereiche mit Büchern, zum Sitzen, Liegen und reichlich Gelegenheiten zum bewegten Lernen. Im Untergeschoss befinden sich Fachräume mit einer Ausstattung, von der wir als deutsche Schule nur träumen können. Die Unterrichtssprache ist Finnisch, die Kinder lernen jedoch ab der ersten Klasse auch Englisch und ca. 25% des Unterrichts werden im Lauf der Schulzeit in englischer Sprache gehalten.

Die Kinder haben hier bereits in der Grundschule die Möglichkeit, nach Interesse und Begabung Fächer zu wählen. Es gibt verschiedene Sprachen und auch im musisch-künstlerischen Bereich können Kurse nach Neigung gewählt werden. Auf meine Frage, warum im Kunst-Fachraum Laptops stehen, sagte die anwesende Lehrkraft mit großer Selbstverständlichkeit: Die Kinder brauchen sie für ihr Portfolio. Sie machen Fotos von ihren Kunstwerken und laden diese auf die digitalen Lernplattform, auf die Eltern, Lehrkräfte und die Kinder selbst Zugriff haben. Ich erinnerte mich daran, dass ich schon vor 15 Jahren von der Portfolioarbeit in den nordischen Ländern gehört hatte. Offensichtlich gibt es eine lange Tradition dieser Art der Lerndokumentation, die nun einfach ins digitale umgesetzt wurde.

Die Schulleiterin betonte bei ihrem Rundgang, dass es ihr sehr wichtig sei, dass die Lehrkräfte an ihrer Schule im Team arbeiten können. Niemand plant seinen Unterricht alleine, Materialien werden gemeinsam erstellt und selbstverständlich geteilt. Das Unterrichtsdeputat der Lehrkräfte umfasst 25 Stunden à 45 Minuten, daneben ist eine Stunde in der Woche für die Teamplanung reserviert. Insgesamt arbeiten finnische Lehrkräfte hier wie auch woanders 40 Zeitstunden in der Woche.

Havukosken Koul (Sekundarschule Klasse 6 bis 9)

Am Nachmittag desselben Tages haben wir die Havukosken Koulu in Vantaa, einem Vorort ca. 25 Minuten nördlich von Helsinki besucht. Diese Schule ist eine reine Sekundarschule und wird von Schüler:innen der Jahrgänge 6 bis 9 besucht. Auch hier wurden wir darum gebeten, unsere Straßenschuhe auszuziehen, was wir ja schon aus der Primarschule vom Vormittag kannten. Unser Guide Petri sagte, das sei jedoch nicht durchgehend üblich. Diese Schule erschien uns von der Zusammensetzung der Schüler:innen am ehesten vergleichbar mit unserer Sekundarstufe an der Gemeinschaftsschule. Wir wurden zunächst vom Schulleiter in ein Klassenzimmer geführt, mit flexiblem Mobiliar und zwei mobilen Hütten, die den Raum in zwei Teile teilten. An den Wänden hingen viele Plakate mit dem finnischen Grundwortschatz und Übersichten zu grammatikalischen Themen. Später erfuhren wir, dass wir uns in einer Preparatory Class (ähnlich wie die deutschen Vorbereitungsklassen) befanden. Im Rahmen eines Vortrages wurden wir über die Besonderheiten der Schule informiert. Der Schulleiter berichtete, dass das Thema Migration erst in den letzten Jahren im finnischen Schulsystem angekommen sei und das eine Herausforderung sei. Die Jugendlichen ohne Sprachkenntnisse können ein Jahr lang eine Vorbereitungsklasse besuchen, werden in Kunst, Musik, Sport und in den eher handwerklich orientierten Fächern von Beginn an integrativ unterrichtet. Danach müssen sie am Regelunterricht teilnehmen. Er sagte aber auch, dass das eine Jahr nicht reiche.

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6 Kommentare

  1. Gratian Donnerstag, 5. Dezember 2024

    Vielen Dank für die tollen Eindrücke und Berichte!

  2. Doreen Freitag, 6. Dezember 2024

    Das ist ja so spannend und beeindruckend was du von den finnischen Schulen berichtest. Es hat auch mich als Erzieherin sehr interessiert.
    Vielen Dank dafür.

    • susanneposselt Freitag, 6. Dezember 2024 — Autor der Seiten

      Wir haben tatsächlich auch eine Gruppe von 3 Kindergarten-Lehrerinnen aus Bulgarien dabei. Es war sehr interessant zu erfahren, wie der Kindergarten dort funktioniert. Den Beruf „Erzieherin“ in dem Sinn, wie wir ihn kennen, gibt es dort gar nicht. Sie sind Kindergarden Teachers. Sehr spannend!

  3. Clarita Freitag, 6. Dezember 2024

    Langsam u schnell lernende SuS im gleichen Schulzimmer und jedes bestimmt selbst, wann es zu welchem Thema eine Prüfung schreibt?

    • susanneposselt Freitag, 6. Dezember 2024 — Autor der Seiten

      Ja, wenn man es nicht selbst gesehen hat, kann man es kaum glauben. Aber für die Finnen ist es selbstverständlich, dass die Kinder und Jugendlichen gemeinsam lernen. Sie richten ihre Aufgaben an den Lernenden aus. Die Lernkultur ist sehr kooperativ, die Jugendlichen helfen sich auch gegenseitig und es gibt eine Kultur des Vertrauens. Spätestens in der Sekundarstufe haben die Jugendlichen Laptops, die für das eigenständige Arbeiten zur Verfügung gestellt werden. Digitale Lernplattformen sind selbstverständlich.

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