Bildungsweise

Susanne Posselt

Zum Abschied: Apfelkuchen und eine Reise in die Vergangenheit

Es ist November. Totensonntag.

Die Äpfel, die der Baum in unserem Garten in diesem Jahr trug, wuchsen in einem Jahr, das vieles verändert hat. Sie wuchsen, während Ärzte mit Medikamenten Zellen in meinem Körper daran hindern wollten, zu wachsen. Sie wuchsen, als mein Schwiegervater uns im Mai während meiner Chemotherapie zum letzten Mal gemeinsam mit meiner Schwiegermutter besuchte und mit Blick auf den Apfelbaum sagte, er werde wohl nicht mehr hierherkommen. Er hatte recht. In diesem Monat ist er verstorben.

Am Tag nach seinem Tod habe ich die letzten Äpfel aus unserem Garten zu einem Apfelkuchen verarbeitet. Am Nachmittag kamen die Kinder. Wir schauten Fotos vom Opa an, aßen Apfelkuchen und erinnerten uns. Weißt du noch? Der Apfelkuchen war köstlich und der Abschied schmeckte süß und nach Zimt. Es wehte schon ein Hauch von Weihnachten durch den Raum. Ein Weihnachten, das der Opa nicht mehr erleben würde. 

Die Großeltern waren immer pragmatisch gewesen. Sie wollten nicht, dass wir an Weihnachten in Stress gerieten, nur damit beide Großelternpaare an den Feiertagen besucht waren. Deshalb feierten wir immer vor. Wir trafen uns im Advent, meist an einem Sonntag, in einem Restaurant und aßen gemeinsam. Oft fuhren wir danach noch zu uns oder zu ihnen nach Hause und spielten eine Runde Lorum – ein Spiel, das der Opa und seine Eltern 1945 aus seiner Heimat mit ins Schwäbische gebracht hatten. Es wird mit altdeutschem Blatt gespielt. 

Viele schöne Erlebnisse verbinden unsere Kinder mit dem Opa. Als sie zur Welt kamen, war er schon in Rente. Er hatte Zeit und er nahm sich Zeit. Zum Spielen. Zum Zeigen der Welt. Für Ausflüge in die Natur. Er hatte in seinem Leben hart gearbeitet, um diese Zeit der Rente genießen zu können. Und genießen konnte er. Die Natur, die Berge, die weite Welt. 

Während er in seinem Arbeitsleben als Schriftsetzer viel Zeit in seiner Werkstatt in Stuttgart verbracht hatte, widmete er seinen letzten Lebensabschnitt der Familie und dem Reisen. 

Das Haus in Leonberg hatten die Großeltern Ende der 90er Jahre gegen eine kleinere, altersgerechte Wohnung eingetauscht. Die Kinder waren ausgezogen und sie brauchten den Platz nicht mehr. Viel Zeit verbrachten sie auch im Allgäu, wo sie seit den 80er Jahren ein kleines Häuschen besaßen. Irgendwann im Lauf des Jahres 2023 beschlossen sie, ihren Lebensabend dort zu verbringen. Mit Blick auf die Berge. Den Verkauf der Leonberger Wohnung bewältigten sie allein. Ende März feierten wir noch mit der ganzen Familie den 80. Geburtstag der Oma. Im Mai besuchten sie uns ein letztes Mal im Garten. Sie saßen auf der Hollywoodschaukel und blickten in den Apfelbaum.

Heute, am Totensonntag, haben Dietmar und ich noch einmal Abschied genommen. Mit dem Stäffelesrutscher, einem Sonderzug der Ulmer Eisenbahnfreunde, sind wir in und um Stuttgart herum unterwegs gewesen. Bei Korntal, auf der Strecke zwischen Leonberg und Stuttgart ging die Sonne unter und tauchte den Himmel in flammendes Orange.

Das Leben ist eine Reise. Wir wissen nicht, wann und wo sie endet. 

Adieu Opa Kurt.

Weiter Beitrag

Kommentar verfassen

© 2024 Bildungsweise

Thema von Anders Norén