Bildungsweise

Susanne Posselt

Schule in Estland

Für einen ersten Einblick in die estnische Kultur und Besonderheiten des politischen Systems empfiehlt sich die Lektüre des Wikipedia-Artikels

Estland ist ein kleines Land mit rund 1,3 Millionen Einwohnern. Das Land zählt zum Baltikum und grenzt im Norden und Westen an die Ostsee, im Süden an Lettland und im Osten an Russland. Es gibt enge kulturell und sprachlich bedingte Verbindungen zu Finnland.

Das estnische Schulsystem ist im Aufbau dem finnischen Schulsystem recht ähnlich. Estnische Schulen sind ebenfalls Gemeinschaftsschulen und umfassen in der Basic Education die Klassen 1 bis 9. Nach Abschluss der 9. Klasse legen estnische Schüler:innen staatliche Prüfungen ab und bewerben sich mit den Ergebnissen an weiterführenden Schulen. Mit guten Noten kann man sich an verschiedenen Schulen für die Oberstufe bewerben, die zur Hochschulreife führt. Voraussetzung hierfür sind neben guten Fachnoten auch gute Verhaltensnoten, die regelmäßig erteilt werden. Viele Schulen sind sehr groß und bieten auch eine Oberstufe an. Alternativ bewerben sich die Schüler:innen an eher praktisch ausgerichteten Schulen der Vocational Education. Es gibt ein staatliches Curriculum, das laufend evaluiert wird und auch den systematischen Aufbau digitaler Kompetenzen umfasst. 

Die Tallina 21. Kool

Die 21. Kool hat rund 1500 Schüler:innen und ist eine über hundert Jahre alte Schule in Tallinn, die es sich explizit zur Aufgabe gemacht hat, Innovation und Tradition zu verbinden. Sie umfasst die Basic Education von Klasse 1 bis 9 und die Upper Secondary Education mit den Klassen 10 bis 12 an. Ab der ersten Klasse werden neben dem Basis-Curriculum drei verschiedene Profile angeboten: Musik und digitale Technologien, Englisch und Naturwissenschaften sowie Entrepreneurship und Robotics. 

Wir haben Klassen mit Grundschulkindern gesehen, die wunderschön für uns gesungen haben und ebenso junge Kinder in der Lego-Robotics-Klasse, wo Lego-Roboter gebaut und programmiert wurden. Wir durften im Mathematik-, Physik- und Chemieunterricht hospitieren und haben Unterricht auf einem hohen fachlichen Niveau gesehen.

In der Oberstufe, für die man sich nach den staatlichen Examina nach der 9. Klasse gesondert bewerben muss, können die Schüler:innen zwischen den Profilen International Relationships, Humanitarian und Science wählen. Die Schule hat einen exzellenten Ruf und viele berühmte Alumnis, sodass die Plätze hier sehr begehrt sind: auf einen Platz kommen zwischen 6 und 8 Bewerbungen. Für das musikalische Profil muss man überdies eine musikalische Begabung nachweisen. 

Neben den besonderen Profilen legt die Schule viel Wert auf Gemeinschaft, projektorientiertes Arbeiten und gesellschaftliches Engagement. Die Schüler:innen tragen Schuluniformen und es gibt einen Schulring, der zeigt, ob man bereits graduiert ist oder noch davorsteht. 

Die Fächer werden im traditionellen Setting in Fachräumen unterrichtet. Die Unterrichtsinhalte findet man inklusive aller Schulbücher auf einer Onlineplattform namens OPIQ, es gibt darüber hinaus das Lernmanagementsystem E-Kool, wo Eltern. Kinder und Lehrkräfte jederzeit den Lernfortschritt einsehen können und das auch als Komminikationssystem dient. Auf jedem Flur gibt es Laptopwagen mit Ladefunktion, die von den Lehrkräften gebucht werden können. Für alle Stufen gibt es ein detailliertes und differenziertes Mediencurriculum, das Digital Skills integriert. Neben Robotics lernen die Kinder früh auch das Schreiben im 10-Finger-System mit der Tastatur und erwerben früh informationstechnische Kenntnisse auf hohem Niveau.  

Die Schule hat eigene Educational Technologists, die sich um die inhaltliche Ausgestaltung des Curriculums und die Fortbildung der Lehrkräfte kümmern. 

Hier könnte ihr die Homepage der Schule anschauen, die es auch in einer deutschen Übersetzung gibt.

Das Tallinna Pae Gümnaasium

Spannende Einblicke in eine ursprünglich komplett russischsprachige Schule in Tallinn gab es am Nachmittag: Das Pae Gümnaasium hat rund 1200 Schüler:innen in 49 Klassen und umfasst auch eine Oberstufe, die zur Hochschulreife führt. Hier arbeiten 120 Lehrkräfte. Die Schule selbst wirkte auf uns als Besucher recht traditionell. Wie auch schon in der 21st Koulu wirkten die Schüler:innen sehr diszipliniert und der von und beobachtete Unterricht verlief geordnet und auf hohem Niveau. Ursprünglich war die Schule offenbar eine der vielen russischsprachigen Schulen, die in Estland noch zu finden sind. Die Regierung hat allerdings seit diesem Jahr angeordnet, dass die Unterrichtssprache ab Klasse 1 und Klasse 4 aufwachsend Estnisch sein muss, sodass die Schule sich in einem Veränderungsprozess befindet. 

Die Schule hat ein besonderes sprachliches Profil und wurde für ihr immersives Lernkonzept ausgezeichnet. Auch hier gibt es darüber hinaus ein informationstechnisches Curriculum, das integrativ ab Klasse 1 umgesetzt wird. Die Schüler:innen lernen dabei außerdem systematisch, wie der Computer als Forschungsinstrument eingesetzt wird. Am Ende unseres Schulbesuches haben zwei Neuntklässer ihre Forschungsprojekte für uns präsentiert, die nach deutschem Maßstab mindestens auf Bachelor-Niveau anzusiedeln waren. 

Die Kuusalu Keskool

Im Rahmen unseres dritten Schulbesuches in Estland wurde uns eine weitere, von den beiden ersten Schulen sehr verschiedene Schule präsentiert. Die Kuusalu Keskool liegt rund 40 Kilometer östlich von Tallinn im ländlichen Raum. Die Kinder werden hier mit Bussen zur Schule transportiert. 

Das Schulgebäude befindet sich in einem Erneuerungsprozess. Es wird nach und nach abgerissen und völlig neu aufgebaut. Der neue Teil des Gebäudes wirkt hell und großzügig. Neben klassischen Klassenzimmern findet man hier auch offenere Bereiche. 

Die Schule befindet sich auch pädagogisch in einem ständigen Entwicklungsprozess. So hat man hier von den 45-Minuten-Einheiten Abstand genommen und ist zu 80-Minuten-Einheiten übergegangen, weil man damit Deeper Learning erreichen möchte. Erstklässler haben auch diese Weise nur 2 Unterrichseinheiten am Tag und müssen nicht mehr so viele Unterrichtsmaterialien von zu Hause in die Schule und zurück transportieren.

Interessant an dieser Schule ist ihr Distance-Learning-Konzept. Da es durch die Renovierung im laufenden Betrieb zu wenige Räume gibt, gehen wöchentlich Klassen von Jahrgang 6 bis Jahrgang 10 in den Fernunterricht. Alle Jahrgänge haben zudem regelmäßige Fernunterrichtstage, die dem Aufbau von Selbstorganisationsfähigkeiten dienen sollen.

Als Herausforderungen im Schulentwicklungsprozess wurde uns vor allem der Lehrkräftemangel und der Umgang mit Smartphones genannt. Die Schulleiterin sorgt sich außerdem um ihre Oberstufe, der mit genau 100 Schüler:innen als Untergrenze die Schließung droht. Der Besuch in einer Deutschstunde einer muttersprachlichen Lehrerin zeigte darüber hinaus weitere Herausforderungen, über die in der offiziellen Präsentation nicht offen gesprochen worden war: Die Lehrerin, die erst seit diesem Jahr Deutschland hinter sich gelassen hat, um sich auf ein estnisches Schulexperiment einzulassen, berichtete (trotz der strikten Verhaltensbenotung) von großen Verhaltensproblemen der Schüler:innen und Respektlosigkeiten ihr gegenüber. Es sei inzwischen besser, aber sie habe die Unterstützung der Schulleitung gebraucht.

Zusammenschau

Man muss sicher sagen: Schulen, die sich bereiterklären, im Rahmen eines Besuches von europäischen Lehrkräften ihre Türen zu öffnen, möchten sich gut präsentieren. Uns wurde das gezeigt, worauf man stolz ist. Genauso wäre es in Deutschland sicher auch. Man kann vor allem zwischen den Zeilen lesen, mit welchen Herausforderungen das estnische Schulsystem sich beschäftigen muss. Offen benannt wurde hier vor allem der Lehrkräftemangel. Estnische Lehrkräfte verdienen unterdurchschnittlich wenig. Viele der jungen Menschen, die die Universität mit dem Ziel besuchen, Lehrer oder Lehrerin zu werden, entscheiden sich im Lauf des Studiums für einen anderen Weg und gehen in besser bezahlte Jobs in der freien Wirtschaft. Das ist in Estland leichter möglich als in Deutschland, weil das Studium flexibler und offener gestaltet ist. Wie auch in Finnland studiert man seine Fächer separat und ergänzt sie nur um Pädagogik und Psychologie, wenn man das Ziel Lehramt hat. 

Russische Identitäten

Eine Herausforderung, von der man eher hinter vorgehaltener Hand erfahren hat, war der Umgang mit dem Nachbarn Russland und der russischen Minderheit im eigenen Land. Während es vor dem Ukraine-Krieg üblich war, Russisch als Fremdsprache in den Schulen zu lernen, haben wir mitbekommen, dass viele Schulen dieses Sprachlernangebot abzuschaffen und stattdessen andere, westeuropäische Sprachen, wie Deutsch, Spanisch oder Französisch, als Wahlmodule anzubieten. Die Regierung hat außerdem beschlossen, dass es keine rein russischsprachigen Schulen mehr geben darf und alle estnischen Kinder von diesem Schuljahr an ab der 1. und der 4. Klasse an Estnisch lernen müssen und die Unterrichtssprache Russisch zu sein hat. Angesichts einer „Minderheit“ von rund 25 Prozent, die bisher immer in eigenen Communitys mit eigenen Schulen lebte, kann man sich vorstellen, dass in dieser Entscheidung durchaus Sprengkraft liegt. Die zweite Schule im Rahmen unserer Reise war eine solche russischsprachige Schule und man hat durchaus gespürt, dass die Stimmung eher ambivalent war. 

Wettbewerb

Insgesamt hatten wir den Eindruck, dass das estnische Schulsystem sehr leistungsorientiert und kompetitiv ausgerichtet ist. Schule und Bildung genießen einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert und es gehört zum Ansehen der Familie, dass die Kinder gute schulische Leistungen erzielen. Diese Leistungen werden in den Schulen in Form von Wettbewerbsergebnissen mit Pokalen und Bestenlisten sowie Fotowänden präsentiert. In der Tallinna 21. Koulu gibt es eine Wand im zentralen Schulflur, auf dem die Namen für Jahrgangsbesten in Kalligrafieschrift verewigt sind. 

Digitalisierung

Die Digitalisierung ist in Estland offenkundig sehr weit fortgeschritten und in den Schulen sichtbar. Zwar haben die Schulen keineswegs eine 1:1-Ausstattung mit digitalen Endgeräten, aber digitale Kompetenzen sind Teil des nationalen Curriculums und implizit wird auch erwartet, dass die Familien ihren Kindern einen Internetanschluss und geeignete digitale Endgeräte, etwa in Form eines Laptops, zur Verfügung stellen. Das Thema Smartphone in den Händen von Kindern und Jugendlichen scheint sich jedoch auch in Estland zu einem großen Problem zu entwickeln. Man hat uns berichtet, dass es für den unerlaubten Gebrauch von Smartphones schlechte Verhaltensnoten gibt und dass die Leistungsbereitschaft durch eine höher werdende Ablenkbarkeit vor allem der Jugendlichen sinkt. Es wird erwartet, dass die Regierung Gesetze erlässt, die den Gebrauch von Smartphones in der Schule stark einschränken oder verbieten. In der Praxis haben wir unterschiedliche Vorgehensweisen erlebt. Sie reichten vom strikten Verbot bis hin zum selbstverständlichen Gebrauch überall im Schulhaus und Jugendlichen, die während der Pausen mit ihrem Handy beschäftigt waren. Trotz dieser wachsenden Problematik sind die digitalen Kompetenzen estnischer Schülerinnen und Schüler offenkundig sehr hoch, weil man erkannt hat, dass diese Fähigkeiten unerlässlich für die erfolgreiche Teilnahme am globalen Wettbewerb sind. 

Insgesamt hinterlässt der Einblick in das estnische Schulsystem bei uns ein ambivalentes Gefühl. Es spiegelt die Verortung des Systems zwischen Tradition und Innovation und die Spannungen durch den Konflikt mit dem russischen Nachbarn. Vieles wurde nicht offen gesagt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Entscheidungen der estnischen Regierung auf den messbaren Schulerfolg und die Stimmung innerhalb der Bevölkerung auswirken. 

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