Bildungsweise

Susanne Posselt

Bildungsungleichheit

Ein Vortrag von Prof. Dr. Kai Maaz vom DIPF | Leibnitz Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation

https://susanneposselt.de/wp-content/uploads/2021/11/MUSE_1_1021_Vortrag_Maaz.pdf

Bildungserfolg und Herkunft hängen in fast keinem anderen Land in Europa so eng zusammen wie in Deutschland. Das wissen wir spätestens seit dem legendären „PISA-Schock“ vor rund 20 Jahren. Doch was genau bedeutet Herkunft? Welche Effekte sind messbar, wann setzen sie ein und was kann Schule dem entgegensetzen? Dieser Frage gingen wir im Rahmen der ersten Präsenzveranstaltung unseres MUSE- Studienganges nach. Prof. Dr. Kai Maaz vom Leibnitz-Institut für empirische Bildungsforschung stellte uns lange bekannte und auch aktuelle Erkenntnisse vor. Die alles entscheidende Frage war hierbei: Wie können wir Bildungsbenachteiligung abbauen?

1. Ausmaß sozialer Ungleichheiten über den Bildungsverlauf

Es gibt zahlreiche Forschungsarbeiten zu Bildungsungleichheiten: Von der frühkindlichen Bildung bis zum Hochschulzugang zeigen sich deutliche Zusammenhänge zwischen der soziokulturellen Herkunft und Indikatoren des Bildungserfolgs: Der Bildungsbeteiligung in Form von Zugang zum Zertifikaten und Abschlüssen und dem Kompetenzerwerb.
Die Effekte zeigen sich bereits im vorschulischen Bereich und verstärken sich im Lauf der Zeit, während die Kinder ihre Wege durch die Bildungsinstitutionen nehmen.

Je höher der sozioökonomische Status der Eltern, umso häufiger nehmen Kinder etwa an einer musikalischen Früherziehung teil oder besuchen bereits mit unter drei Jahren eine KiTa. Kinder privilegierter Eltern verfügen stabil über die gesamte Schulzeit über eine höhere Lesekompetenz, wobei Schule auch nicht zu einer Verringerung der Leistungsdifferenz führt. Demensprechend besuchen sie deutlich häufiger ein Gymnasium, nehmen eher ein Studium auf und schließen es am Ende auch ab. Nur 15% der Nicht-Akademiker-Kinder schließen ihr Studium mit einem Master-Abschluss ab, während das fast die Hälfte der Akademiker-Kinder schaffen.

2. Entstehungszusammenhänge sozialer Ungleichheitseffekte

Soziale Ungleichheitseffekte entstehen an verschiedenen Punkten des Bildungssystems:

  1. Innerhalb der Institutionen des Bildungssystems zeigt sich, dass Lehrer:innen Begabung und Leistung, Soziale Fähigkeiten und Motivation der Kinder zwar gut einschätzen können. Gleichzeitig ist die Einschätzung abhängig von bestimmten Merkmalen: So spielen Merkmale wie Geschlecht, Migrationshintergrund und Beruf der Eltern eine Rolle, inwiefern Kinder als begabter oder weniger begabt eingeschätzt werden.
  2. Zwischen institutionalisierten Bildungsprogrammen entstehen Effekte durch Lern- und Entwicklungsmilieus, die sich auf Kompetenzentwicklung, psychosoziale Entwicklung sowie Abschlusszertifikate und Noten auswirken. Dabei zeigt sich ein Schereneffekt: Unterschiede in den individuellen Lernvoraussetzungen, Kompositionseffekte aus der Zusammensetzung der Schülerschaft und institutionelle Unterschiede, etwa bei Stundentafeln und Unterrichtskultur, führen über die Zeit zu einer Vergrößerung der Unterschiede.
  3. Auch an den Bildungsübergängen zeigen sich Effekte durch Empfehlungen und Entscheidungen, abhängig von Ressourcen der sozialen Herkunft: Unterschiedliches ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital führt zu Primären und Sekundären Herkunftseffekten: Bessere Förderung zeigt sich primär in besseren Leistungen. Die Kosten- und Nutzenkalkulation von Eltern verschiedener Herkunft zeigt sich wiederum sekundär in Bildungsentscheidungen an den Übergängen des Bildungssystems.

Bildungsbarrieren sind jedoch immer auch multidimensional: Sie liegen innerhalb und außerhalb des Bildungssystems auf verschiedenen Ebenen und sollten nicht ausschließlich aus schulischer Perspektive betrachtet werden.

Wenn man die Schulwelt betrachtet, so stellt man fest, dass die beobachtbaren Effekte durch die Variabilität zwischen Einzelschulen stärker sind, als Effekte durch Schulstrukturen. Unterschiede zwischen den Einzelschulen zeigen sich in der Schulleitung, der Schulkultur und einem Schulprofil, das auch von den Lehrkräften mitgetragen werden muss. Hierbei hat die Covid19-Pandemie die Schieflagen zum Vorschein gebracht, die es ohnehin schon seit langem gibt.

3. Alte und neue Herausforderungen durch Covid19

Internationale Studien deuten auf Lernrückstände und eine Verringerung der Lernraten durch pandemiebedingte Schulschließungen hin. Was Deutschland betrifft, so muss man sagen, dass kaum möglich ist, empirisch fundierte Aussagen über Lernverläufe und Bildungsungleichheiten durch die Pandemie zu treffen, da es an systematisch erhobenen Daten fehlt. Neben Leistungsabfällen müssen zudem auch psychische Folgen betrachtet werden. Sowohl bei den Effekten auf die schulischen Leistungen als auch bei den psychischen Auffälligkeiten gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Kinder aus ökonomisch und kulturell benachteiligten Familien viel stärker betroffen sind als Kinder aus privilegierten Familien.

4. Umgang mit Heterogenität, Kompetenzarmut und Ungleichheiten

Grundsätzlich muss man sagen, dass als erster Schritt im Umgang mit den pandemiebedingten Folgen zunächst die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Förderung geschaffen werden müssen. Dieser Aspekt der pandemiebedingten Heterogenität ist über Monate in der öffentlichen Diskussion zu kurz gekommen: Ohne stabile, vertraute und zuverlässige Beziehungen ist Lernen kaum möglich. Hier braucht es dringend die Etablierung von niederschwelligen Beratungs- und Unterstützungsangeboten.

Wenn die Basis für eine erfolgversprechende Lernbeziehung geschaffen wurde, sollten zunächst die Basiskompetenzen in den Blick genommen werden. Die Sicherung sprachlicher und mathematischer Kompetenzen ist Voraussetzung für anschlussfähiges Lernen auch in anderen Fächern. Hierfür braucht es die Bereitstellung von Diagnoseinstrumenten, die insbesondere im unteren Leistungsbereich differenzieren.
Erst nach der Sicherung der Basiskompetenzen sollten Selbstregulation und Selbstlernkompetenzen in den Blick genommen werden. Fächerübergreifende Angebote helfen vor allem Schüler:innen, die bereits über entsprechende Kompetenzen verfügen, leistungsschwache Schüler brauchen als Grundlage mehr Struktur.

Der Umgang mit unterschiedlichen Lernständen ist die vielleicht größte Herausforderung und erfordert konkrete Maßnahmen zur Gestaltung des Unterrichts und Qualifizierungsangebote für Lehrer:innen. Adaptiver Unterricht mit einer Vielfalt an Methoden zur Differenzierung der Aufgaben, die sich durch eine Anpassung an die Lernbedürfnisse der SuS auszeichnen, sollte Ziel dieser Qualifizierungsangebote sein.
Darüber hinaus sollte individuelles Feedback gestärkt und ausgebaut werden.

Außerhalb des Unterrichts sollte es attraktive kompensatorische Angebote für Schüler:innen und eine verstärkte Kooperation mit außerschulischen Bildungsanbietern geben.

5. Potenziale ganztägiger Bildung

Die Ganztagsschule ist in aller Munde. Doch nur jedes zweite Kind hat bundesweit die Möglichkeit, eine Ganztagsschule zu besuchen, wobei der Ausbau in den verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedlich weit gediehen ist – Baden-Württemberg ist hier eines der Schlusslichter. Ein politisches Problem im Hinblick auf die Qualität der Ganztagsangebote ist ein unklares Erwartungsmanagement: Die Frage, welche Ziele mit dem Ausbau dieser Angebote verfolgt werden, ist nämlich keinesfalls klar zu beantworten.

Geht es um eine höhere Erwerbsbeteiligung v.a. von Frauen? Soll die Ganztagsschule kompensatorische Effekte haben? Die Beantwortung dieser Fragen hat Konsequenzen auf die Ausgestaltung und Personalgewinnung des Ganztages. Derzeit sind Bildungsadministrationen teilweise froh, dass sich in den vorliegenden Studien keine messbaren Effekte in Bezug auf eine Kompensation von Bildungsungleichheit und auch keine positiven Effekte auf schulische Leistungen feststellen lassen.

Was gesagt werden kann: Bei ausreichend hoher Angebotsqualität lassen sich teilweise eine positive Entwicklung des fachspezifischen Selbstkonzepts in der Grundschule sowie eine bessere Lernzielorientierung und ein besseres Leseselbstkonzept im Sekundarbereich feststellen. Derzeit gibt es jedoch in der Ausgestaltung von Ganztagskonzepten ein ganzes Spektrum vom „Schäfermodell“ (d.h. einer reinen Nachmittagsbetreuung) bis hin zu hervorragend ausgebauten Ganztagsschulen. Es braucht hier dringend eine politische Diskussion über die Ziele ganztägiger Bildung und dementsprechend eine Identifikation und verbindliche Festlegung von Qualitätskriterien für Ganztagsschulen.

6. Bund-Länder-Initiative „Schule macht starkt“ (SchuMaS)

Die Bund-Länder-Initiative SchuMaS ist ein Forschungsverbund unter der Gesamtkoordination des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation und
begleitet seit Anfang 2021 200 Schulen in sozial schwieriger Lage. SchuMaS setzt bei vier thematischen Handlungsfeldern an:

  1. Weiterentwicklung des Unterrichts mit Fokus auf Mathematik und Deutsch
  2. Gezieltere Qualifikation des pädagogischen Personals unter Berücksichtigung der spezifischen Bedingung von Schulen in sozial herausfordernder Lage
  3. Weiterentwicklung der Schule als Organisation, der Schulkultur und des Führungshandelns
  4. Förderung des Lernens außerhalb des Unterrichts und Unterstützung im sozialen Umfeld – Öffnung zum Sozialraum

Diese vier Handlungsfelder sollen mit einem kokonstruktiven Ansatz miteinander verzahnt werden. Ziel ist eine Identifikation und Entwicklung wirksamer Maßnahmen zum Abbau sozialer Ungleichheiten.

7. Individuelle Förderung

Laut Kultusministerkonferenz ist Leitlinie einer auf Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit zielenden Bildungspolitik: „Alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status so zu fördern, dass für alle Kinder und alle Jugendlichen ein bestmöglicher Lern- und Bildungserfolg gesichert ist.“ Schlüssel soll „individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler“ sein. (…) „Die Potenziale aller Kinder und Jugendlichen müssen möglichst frühzeitig erkannt werden. Alle Kinder und Jugendlichen benötigen geeignete Formen des Lehrens und Lernens sowie auf die zugeschnittene und sie aktivierende Angebote der Beratung und Begleitung ihres Bildungsganges.“

Kultusministerkonferenz 2016

Das Thema „individuelle Förderung“ wird oft als Zauberhülse verwendet. Ähnlich wie bei der politischen Diskussion um den Ausbau der Ganztagsschulen stellt sich jedoch auch hier die Frage: Geht es tatsächlich um eine kompensatorische Förderung? Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass ein Ausbau der individuellen Förderung eher noch eine Vergrößerung der Leistungsschere erwarten lässt. Passt das mit unserem Gerechtigkeitsempfinden zusammen?

Entscheidendes Ziel muss in jedem Fall sein, den unteren Kompetenzbereich so anzuheben, dass diese Gruppe in einen Bereich kommt, der tragbar ist. Wenn die obere Kompetenzgruppe dann auch Leistungszuwächse verzeichnet, ist das nicht nur vertretbar, sondern durchaus auch im Sinne einer Exzellenzförderung.

8. Bildung in der digitalisierten Welt

In einer zunehmend digitalisierten Welt werden die Beteiligungsmerkmale differenzierter: Es geht nicht nur um Zugänge zu den Geräten, sondern auch um Unterstützungsmöglichkeiten: Was, wenn die Geräte nicht funktionieren?
Auch ein erweiterter Kompetenzerwerb muss in den Blick genommen werden: Wie lernt man mit dem Überfluss an Informationen umzugehen? Wie steht es um die eigenen digitalen Kompetenzen?
Es deutet sich bereits an, dass die Zusammenhangstruktur von Ungleichheit hier noch sehr viel differenzierter werden kann. Digitalisierung ist nicht ausschließlich Heilsbringer, um soziale Ungleichheiten auflösen zu können. Der Schub der Digitalisierung sollte jedoch mitgenommen werden, ohne dass sie dabei zum Selbstzweck werden sollte.
Notwendig ist in jedem Fall eine leistungsstarke technische Infrastruktur, die nachhaltig sein sollte. Digitale Technologien sollten im Unterricht ausgeweitet werden.

Zentrale Forderung muss sein, eine Technik für die Pädagogik zu entwickeln.
Gleichzeitig ist eine mehrdimensionale Förderung der digitalen Kompetenzen entscheidend.

9. Ausblick

Für Lösungsansätze zum Abbau von Bildungsungleichheit braucht es ein klares Bekenntnis zum Abbau von Bildungsarmut und zur Reduktion von Bildungsungleichheiten.
Die politischen Institutionen müssen sich hierfür lang-, mittel- und kurzfristige Ziele setzen und entschieden darauf hinarbeiten. Maßnahmen sollten nicht erst dort implementiert werden, wo Probleme sichtbar werden. Dabei ist es notwendig, über Bildungsbereiche hinweg zu denken und sie miteinander verzahnen. Ohne eine konsequente bedarfsorientierte Ressourcenzuweisung werden diese Ziele nicht erreichbar sein. Im Fokus muss eine Stärkung und individuelle Förderung der Basiskompetenzen bei einem verstärkten Einsatz von individualisierten Feedback-Instrumenten stehen.
Neben einer Fortbildungsoffensive für das Personal an Schulen muss auch die Ganztagsschule weiterentwickelt werden, wobei es einen wissenschaftsgeleiteten Qualitätsdialog zum Ganztag sollte. Neben der Arbeit in multiprofessionellen Teams als Standard muss auch die Zusammenarbeit mit außerschulischen Anbietern gestärkt werden. Darüber hinaus brauchen wir einen Aufbau verlässlicher, auch mehrsprachiger, Informations- und Unterstützungsstrukturen, um Bildungsregionen entfalten und außerschulische Ressourcen nutzen zu können.Zusammengefasst lässt sich sagen: In mancher Hinsicht haben wir kein Erkenntnis- sondern ein Umsetzungsproblem. Es fehlen klare politische Bekenntnisse zu Zielen bildungspolitischer Maßnahmen, wie etwa Ganztagsschule, Individualisierung und Digitalisierung. Darüber hinaus wäre es dringend erforderlich, die Erkenntnisse zu den gut erforschten einzelnen Effekten der Bildungsungleichheit zu systematisieren.

Zusammengefasst lässt sich sagen: In mancher Hinsicht haben wir kein Erkenntnis- sondern ein Umsetzungsproblem. Es fehlen klare politische Bekenntnisse zu Zielen bildungspolitischer Maßnahmen, wie etwa Ganztagsschule, Individualisierung und Digitalisierung. Darüber hinaus wäre es dringend erforderlich, die Erkenntnisse zu den gut erforschten einzelnen Effekten der Bildungsungleichheit zu systematisieren.

P.S.: Wer sich tiefer in das Forschungsfeld „Bildungsungleichheit“ einarbeiten möchte, dem sei die Lektüre des Online-Dossiers der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema empfohlen: Prof. Dr. Kai Maaz: Soziale Bildungsungleichheiten – Einführung in ein vielschichtiges Forschungsfeld

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