Bildungsweise

Susanne Posselt

Vom Wert der Zeit

EduBlogparade 2024 #2 Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte?

Ich bin zu spät. Wir haben März und das Thema der 2. EduBlogparade hätte bereits im Februar abgeschlossen werden sollen.

Eigentlich wollte ich mir in den Ferien – ganz bewusst im Rahmen einer Auszeit – Zeit für dieses Thema nehmen, das in den vergangenen Wochen immer mal wieder hohe Wellen in der Diskussion um den Lehrkräftemangel und um ein Urteil des EuGH geschlagen hat.

Es geht um Zeit. Arbeitszeit. Lebenszeit. Den Wert von Zeit. Der Grund für die Verspätung liegt also in gewisser Weise im Thema selbst.

Vielleicht wird einem erst mit zunehmendem Alter bewusster, dass Zeit tatsächlich einen – vielleicht nicht immer unmittelbar messbaren – Wert hat. Eindeutig ist: Sie ist zählbar und endlich. Sie vergeht unaufhaltsam und unwiederbringlich. Während ich mir früher wenig Gedanken über diesen Umstand gemacht habe, wird er mir zunehmend bewusster: Ich werde in diesem Jahr 50. Mein Abitur jährt sich zum 30. Mal. Meine Kinder sind inzwischen erwachsen, sie verlassen nach und nach das heimische Nest. Meine Eltern werden älter und die Tatsache der Endlichkeit ihrer (und auch meiner) Lebenszeit drängt sich unaufhaltsam in meine wahrgenommene Wirklichkeit. Während ich viele Jahre lang nicht darüber nachgedacht habe, dass ich arbeite, wieviel ich arbeite und wieviel Zeit ich womit verbringe – ich hatte ja gar keine Zeit zum Nachdenken – nehme ich mir diese Zeit inzwischen bewusst. Es ist notwendig.

Gleichzeitig lasse ich mir meine Leidenschaft und Begeisterung für alles, was mit Lernen und Pädagogik zu tun hat, nicht nehmen. Ich liebe meinen Beruf als Lehrerin und meine neue Tätigkeit im Schulleitungsteam. Gleichwohl verschafft mir mein neues Amt auch eine neue Perspektive auf das Thema.

Das Deputatsmodell

Die Sache mit der Arbeitszeit von Lehrkräften ist nämlich komplex. Gewohnheiten und Besitzstände lassen sich nur schwer verändern, auch wenn offensichtlich ist, dass es an vielen Ecken und Enden im System knirscht. Ich habe versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen, musste aber feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, die vielen Ursachen, Interessen und Zusammenhänge herauszuarbeiten.

Bei uns Lehrkräften wird Zeit mit einem besonderen Maß bestimmt: Dem Deputat

Es ist nämlich nicht so, dass unsere zu leistende Arbeitszeit überhaupt nicht gemessen wird. Sie wird allerdings nicht vollständig gemessen. Gemessen, und damit gewissermaßen kontrolliert, wird lediglich die Zeit, die wir in der Schule mit Unterricht verbringen.

Eine Deputatsstunde bezeichnet dabei eine Einheit von 45 Minuten, die von Lehrkräften in der Schule an Unterricht – das heißt, in der Klasse – im Rahmen ihrer Unterrichtsverpflichtung zu leisten ist. Diese zu leistende Gesamtanzahl an Deputatsstunden unterscheidet sich je nach Lehramt und Bundesland. Die größte Anzahl an Deputatsstunden müssen in Baden-Württemberg die wissenschaftlichen Lehrkräfte in den Grundschulen – bei geringster Besoldung – leisten: Hier sind es 28 Deputatsstunden. Lehrkräfte in der Sekundarstufe I leisten 27, im Gymnasium 25 Deputatsstunden. Fachlehrkräfte – das sind besondere Lehrkräfte ohne wissenschaftliches Studium, die es in dieser Form fast nur in Baden-Württemberg gibt, müssen teilweise sogar 31 Deputatsstunden leisten.

Bei all diesen Unterschieden gilt das Beamtengesetz, das eine Gesamtarbeitszeit von 41 Wochenstunden bei 30 Tagen Erholungsurlaub festlegt. Es bleibt den Lehrkräften dabei selbst überlassen, die tatsächlich geleistete Arbeitszeit mit den unterrichtsfreien Zeiten so zu verrechnen, dass sie am Ende weder zu viel noch zu wenig arbeiten. Ein erheblicher Anteil der Arbeitszeit von Lehrkräften ist also eine Art Vertrauensarbeitszeit.

Betrachtet man darüber hinaus die unterschiedlichen Deputate der verschiedenen Lehrämter vor diesem Hintergrund, bedeutet das im Grunde, dass Grundschullehrkräfte im Verhältnis mehr Zeit in der Schule und im Unterricht verbringen müssen, als Lehrkräfte an Gymnasien.

Die Differenz zwischen dem gemessenen Deputat und der zu leistenden Gesamtarbeitszeit pro Woche ist demnach eine Art Vertrauensarbeitszeit. In dieser Zeit muss all das geschehen, was sonst noch zu Schule dazugehört: Unterrichtsvorbereitung, Absprachen mit Kolleg:innen, Elternarbeit, Konferenzen, berufliche Fort- und Weiterbildung.

Es ist dabei egal, ob man an einer Stadt- oder an einer Dorfschule arbeitet, ob die Schule eine Ganztags- oder eine Halbtagsschule ist und ob die Kinder und Jugendlichen oder deren Eltern viel oder wenig Fürsorge benötigen.

Für manche Aufgaben, die in der Schule zu leisten sind, gibt es sogenannte „Anrechnungsstunden“, das ist die Anzahl an Deputatsstunden, die die Lehrkräfte nicht im Unterricht zu leisten haben, sondern für andere Aufgaben verwenden. Schulleitungen haben Anrechnungsstunden, Mentor:innen von Referendar:innen, aber auch Fortbildner:innen in den Instituten für die Lehrkräftebildung. Jede Schule hat darüber hinaus einen gewissen Pool an Anrechnungsstunden, die sie (nach Offenlegung in der Gesamtlehrerkonferenz) an Lehrkräfte vergeben darf, die in der Schule besondere Aufgaben übernehmen, etwa für die Betreuung der digitalen Endgeräte an den Schulen (wofür diese Stunden allerdings nie reichen. Es gibt Bundesländer, die den Lehrkräften in Mangelzeiten eine Deputatsstunde mehr verordnen. Das heißt dann in der Konsequenz, dass die Gesamtarbeitszeit nach den jeweiligen Landesbeamtengesetzen zwar gleich bleibt, die Lehrkräfte in dieser Zeit aber mehr Unterricht erteilen müssen. Im Prinzip müssen sie schneller arbeiten. Effektiver. Manchmal wird die Mehrarbeit von den Ländern auch in Form sogenannter „Vorgriffsstunden“ verordnet. Dann müssen die Lehrkräfte (wenn Personal fehlt) über einen begrenzten Zeitraum mehr Unterricht erteilen, die Deputatsstunden sollen sie aber zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückerhalten. Wenn sie Glück haben.

Der „Bildungsrat von unten“

Auch im Rahmen meines ehrenamtlichen Engagements für den „Bildungsrat von unten“, spielte das Thema Lehrkräftearbeitszeit eine wichtige Rolle. Ich war im Lauf des vergangenen Jahres für den Themencluster “Arbeitszeit und Entlastung” verantwortlich und habe hier den Diskussionsprozess koordiniert und moderiert. Im Lauf dieses Jahres habe ich viel gelernt über das Wesen kontroverser Diskussionen. Wir sind uns bis zum Schluss in vielen Punkten nicht einig gewesen und der Absatz, der es am Ende ins Manifest geschafft hat, ist das Ergebnis langer Aushandlungsprozesse der Beteiligten an dieser Diskussion:

(7) Arbeitszeiten in Schule erfassen und Tätigkeiten angemessen mit Zeit unterfüttern!

Um angesichts versteckter Überstunden die tatsächlichen Bedarfe transparent zu machen und den durch Mehrarbeit bestehenden Belastungsdruck abzubauen, muss die Arbeitszeit schulischer Lehr- und Fachkräfte künftig vollständig erfasst werden. Die Länder sind aufgefordert, die Voraussetzungen für Pilotprojekte zu schaffen, in denen mit innovativen Formen der Lehrkräftearbeitszeit praktische Erfahrungen gesammelt werden können.

Aus dem Manifest des „Bildungsrats von unten“

Ich persönlich bin inzwischen tatsächlich der Meinung, dass eine Erfassung der Arbeitszeit auch – und gerade – in unserem Beruf notwendig ist. Das Deputatsstundenmodell in seiner althergebrachten Form halte ich, in Anbetracht der veränderten Aufgaben, die Schulen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu erfüllen haben, nicht mehr für zeitgemäß.

Ich denke dabei nicht etwa, wir Lehrkräfte gingen nicht verantwortungsvoll mit unserer Zeit um. In Gegenteil: Ich kenne zahlreiche Lehrkräfte, deren Wochenstundenzahl die 45 Zeitstunden deutlich überschreitet. Oder mehr noch: Teilzeitlehrkräfte, die zwar „eigentlich“ nur ein Teilzeitdeputat erfüllen müssten, deren Wochenstundenzahl am Ende aber deutlich höher liegt. Nicht wenige Kolleg:innen verzichten bewusst auf Geld, um den eigenen Ansprüchen an die Professionalität ihrer Tätigkeit durch ein Teilzeitdeputat gerecht werden zu können. Sie wissen, dass sie ihre Arbeit nicht in der dafür vorgesehenen Zeit in einer für sie angemessenen Qualität erfüllen können.

Arbeitszeiterfassung als Arbeits- und Gesundheitsschutz

Meine eigene Arbeitszeit erfasse ich seit diesem Schuljahr sehr konsequent und ich sehe deutlich, wo die Zeit, die eigentlich für meine Tätigkeiten vorgesehen ist, nicht reicht. Ich bin der Überzeugung, dass wir uns durch eine vollständige Erfassung unserer Arbeitszeit ehrlich machen sollten, in dem, was wir täglich neben dem Unterricht leisten. Die Erfassung dient dem Schutz, nicht der Kontrolle. Es geht hierbei um Transparenz, aber auch um Gerechtigkeit. Es geht darum, zu zeigen, welche Aufgaben in einer professionellen Auffassung von Schule geleistet werden und mit welcher Zeit sie unterfüttert werden müssen.

Schule hat sich verändert.

In einer Schule, die sich in einer sich immer schneller verändernden Welt mit einer immer größer werdenden Unterschiedlichkeit an Kindern auseinanderzusetzen hat, funktioniert das Modell einer Dualität von Unterricht und Unterrichtsvorbereitung (mit Korrekturen) nicht mehr. Schule muss Kooperations- und Beziehungsräume öffnen, in denen sich Teams von Lehrerinnen und Lehrern gemeinsam den Aufgaben stellen. Für diese Teams braucht es gemeinsame Zeiten und Räume. Diese Räume können durchaus hybrid oder digital sein, es muss jedoch klar sein, dass herausfordernde Aufgaben nur gemeinsam zu lösen sind, und dass die dafür aufgewendete Zeit Arbeitszeit ist. Zu dieser Arbeitszeit zählen zielorientierte professionelle Gespräche genauso wie die berufliche Weiterentwicklung durch Fachlektüre oder Fort- und Weiterbildung. Auch die professionelle Lernbegleitung von Schüler:innen, etwa durch Coaching und Lernentwicklungsgespräche oder aber durch formatives Assessment (damit ist die kontinuierliche Arbeit an individuellen Fehlerschwerpunkten gemeint), benötigt Zeit. Arbeitszeit.

Das Arbeitszeitmodell der Alemannenschule Wutöschingen

Spannend finde ich das Arbeitszeitmodell der Alemannenschule Wutöschingen, das Präsenzzeiten an der Schule vorsieht, dabei gleichzeitig aber auch noch einen Anteil an Vertrauensarbeitszeit in der Verantwortung der Lehrkräfte belässt. Hier habe ich vor einiger Zeit bereits über diese Schule und meine Hospitation dort berichtet.

Jede Lehrkraft hat hierbei einen angemessenen Arbeitsplatz an der Schule und moderne Dienstgeräte. Die Arbeitszeiten sind verlässlich und lange im Voraus bekannt. Der Anteil der zu leistenden „Unterrichtsstunden“, also Stunden, die im herkömmlichen Sinn „gehalten“ werden, ist bei diesem Modell im Vergleich zum Deputatsmodell sogar geringer. Das liegt auch daran, dass es in den Hauptfächern, Deutsch, Englisch und Mathematik große (von Teams in der Arbeitszeit), sehr differenziert ausgearbeitete Lernlandschaften gibt, in denen sich die Schüler:innen weitgehend selbstständig bewegen und sich Bildungsplaninhalte in ihrem eigenen Tempo – und je nach Selbstständigkeit – mit selbst gewählten Lernpartnern erarbeiten können.

Beschränkte Freiheit?

Nun könnte man einwenden: Was ist dann mit der pädagogischen Freiheit? Was mit der intrinsischen Motivation, der selbstgesteuerten, kreativen Unterrichtsvorbereitung, der konzentrierten Arbeit am heimischen Schreibtisch?

Ich bin der Überzeugung, dass sich durch eine Messung der eigenen Arbeitszeit daran nur wenig ändern wird.

Was mich an meinem Beruf fasziniert und antreibt, ist unabhängig von der Zahl der Stunden, die ich investiere. Wenn ich gezwungen bin, wenigstens die Gesamtzeit meiner durch die Dienstpflichten vorgegebenen Tätigkeiten zu erfassen, weiß ich auch, was am Ende meinem freiwilligen Engagement geschuldet ist.

Weitere Beiträge der EduBlogparade

Wer die Diskussion verfolgen möchte, kann hier weitere Blogartikel dazu lesen (Danke an Erik Grundmann – ich habe deine Auflistung aus „Zeitgründen“ einfach kopiert)

Erik Grundmann auf schulmun.de: https://www.schulmun.de/2024/02/04/2024-04-auseinandersetzung-mit-dem-manifest-des-bildungsrates-als-teil-einer-blogparade/

Jan Martin Klinge auf Halbtagsblog:
https://halbtagsblog.de/2024/02/04/blogparade-2-arbeitszeiten-in-der-schule-erfassen/.

Gastbeitrag von „Lehrer mit Bart“ auf Halbtagsblog:
https://halbtagsblog.de/2024/02/10/arbeitszeiterfassung-gastbeitrag/.

Thomas Kuban auf Kubiwahn:
https://www.kubiwahn.de/2024/02/arbeitszeiten-in-der-schule-erfassen/.

Die reine Leere:
https://reine-leere.de/lehrerarbeitszeit-gemessen-statt-gefuehlt-edublogparade-2/.

Matthias Lausmann auf Herr Mess:
https://herrmess.de/2024/02/10/edublogparade2024-runde-2-arbeitszeiterfassung-fuer-lehrkraefte/#comments.

Timo Off:
https://www.timo-off.de/2023/eigentlich-keine-arbeitszeiterfassung-aber/.

Fengler Schule:
https://fengler.schule/?p=75.

Christiane Schicke:
https://moewenleak.wordpress.com/2024/02/11/blogparade-2-arbeitszeiten-in-der-schule-erfassen/.

Tobias Schreiner:
https://tobias-schreiner.net/2024/02/17/arbeitszeiterfassung-in-der-schule/.

Es gibt noch einen Beitrag von Julius Becker zum Thema „Stundentafel entschlacken“:
https://monsieur-becker.de/2024/stundentafel-entschlacken/

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1 Kommentar

  1. herrmess Sonntag, 3. März 2024

    Besser spät als nie, liebe Susanne! Und vielen Dank für deinen wichtigen Text. Ich tracke tatsächlich auch eher aus Selbstschutz denn aus Wissensdurst. Dass ich über meinen 40h bin, merke ich auch so. Aber so kann ich eher mal den Stift beiseite legen, wenn ich sehe, was ich aktuell in den Beruf reinbuttere

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