Chiharu Shiota im Grand Palais in Paris
Ein neues Jahr steht für einen neuen Anfang. Das Alte ist vergangen und nun wollen wir es neu und besser machen. Viele Menschen nehmen sich am Anfang eines neuen Jahres Dinge vor. Vorsätze. Wir denken, wir hätten es in der Hand, könnten etwas aus uns machen. Einen besseren Menschen. Ein besseres Leben. Dabei ahnen wir, dass wir diesem Leben auch mit Disziplin und guten Vorsätzen oft nicht beikommen können. Das Leben passiert uns. Unser Handlungsspielraum ist begrenzt. Wir sind begrenzt: Unser Körper, unsere Gedanken und unser Leben.
Im vergangenen Jahr habe ich diese Grenzen mit voller Wucht erfahren müssen.
Grenzerfahrungen werfen Fragen auf. Oft stellen sie alles in Frage: Was ist ein gutes Leben? Was ist uns wichtig? Wie verbringen wir unsere Zeit? Und mit wem? Was wollen wir tun? Was sollen wir tun und was müssen wir tun? Auf viele dieser Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Wo die Sprache uns nicht weiterbringt, kann aber die Kunst helfen.
Kurz nach meiner Krebsdiagnose fuhr ich mit meiner Tochter nach Paris. Wir betrachteten Kunst und spürten, wie gut es uns tat, eine Sprache für unsere Fragen und Antworten zu finden, die ohne Worte auskommt. Spontan besuchten wir nur eine Woche später die Art Basel. Wir sahen eine raumgreifende Installation von Chiharu Shiota mit dem Titel „Extended Line“
Danach schrieb ich:
Dieses Kunstwerk ist eine Installation von @chiharushiota und heißt „The Extended Line“ Es ist derzeit auf der @artbasel zu sehen. Meine Tochter @whosnikas und ich waren gestern spontan dort. Ich wusste nicht, ob ich eine solche Veranstaltung derzeit schaffe. Wir beide haben es gewagt und sind morgens mit dem Deutschlandticket im RegionalExpress in Richtung Basel aufgebrochen. Ich dachte mir, ich kann mich ja jederzeit hinsetzen oder eine Auszeit nehmen, wenn es mir zu viel wird. Es ging gut. Manchmal haben wir einfach dagesessen und die Leute beobachtet. Besonders gut hat uns die Halle 1 mit ihren raumgreifenden und eindrücklichen Arbeiten gefallen. Die Künstlerin #chihsrushiota schreibt in ihrem eigenen Beitrag auf Instagram:
„There is a theory that the body reacts before the mind can create a thought. Maybe it describes how I feel I am not only my body, but also my consciousness. We are moving through the unconsciousness; We are reacting before we are thinking … After my diagnosis, my art was affected as well… I wanted to create something that remains after I am gone. The material is an extension of the body. It is all about the memory under the skin.“
„Es gibt eine Theorie, dass der Körper reagiert, bevor der Geist einen Gedanken formen kann. Vielleicht beschreibt das, wie ich mich fühle: Ich bin nicht nur mein Körper, sondern auch mein Bewusstsein. Wir bewegen uns durch das Unterbewusstsein; wir reagieren, bevor wir denken … Nach meiner Diagnose war auch meine Kunst betroffen … Ich wollte etwas schaffen, das bleibt, wenn ich nicht mehr bin. Das Material ist eine Erweiterung des Körpers. Es dreht sich alles um die Erinnerung unter der Haut.“
Meine Ärzte haben zu mir gesagt, ich soll alles tun, was mir gut tut. Die Sprache der Kunst zu erleben und zu spüren, hat mich zu Tränen gerührt. Mir ist noch einmal umso bewusster geworden, wie wichtig die Kunst für unsere Schulen ist. Wir müssen es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, eine andere Sprache für ihre Emotionen und Gedanken zu finden und daran zu wachsen. Es hilft uns, das Leben zu bewältigen. Und auch das ist ja der Sinn von Schule: Lebensgestaltung, Teilhabe und Kreativität zu fördern.
Nach diesem Erlebnis wussten wir: Diese Reise wollen wir fortsetzen. Als ich sah, dass Installationen von Chiharu Shiota zum Jahreswechsel 2024/25 im Rahmen einer großen Einzelausstellung in Paris zu sehen sein würden, nahmen wir uns vor, diese Ausstellung zu besuchen. Meine andere Tochter, meine Schwester und deren Tochter schlossen sich an. Am 2. Januar besuchten wir fünf Frauen die Ausstellung von Chiharu Shiota im Grand Palais in Paris.
Der Titel der Ausstellung lautet: The soul trembles: Die Seele zittert.
Die Bilder und Videos vermögen bloß einen sehr begrenzten Eindruck vom körperlichen Erleben der raumgreifenden Installationen zu vermitteln. Was für mich bleibt: Alles ist miteinander verbunden. Wir Menschen, die Natur, die Dinge. Der tiefere Sinn dieser Verbundenheit ist dabei nicht in Worte zu fassen. Sie vermittelt jedoch Hoffnung: Selbst wenn wir Menschen durch unsere Gier nach Macht und Bedeutung von allem Besitz ergreifen und uns der Illusion der Kontrolle hingeben, so lässt sich diese Schönheit und innere Stimmigkeit der Welt nicht durch Menschenhand zerstören. Wir haben es nicht in der Hand. Und das ist gut so.
P.S.: Erst kürzlich fiel mir versehentlich auf, dass mich schon einmal eine Installation von Chiharu Shiota unbewusst berührt hat. Erst durch die Volltextsuche (!) meiner Fotogalerie fiel mir ihr Name auf den Fotos ins Gesicht. Chiharu Shiota hatte 2021 mit ihrer Installation „Connected to Life“ das große Foyer im ZKM Karlsruhe bespielt.
Die Installation hatte mich damals an ein in der Mannheimer Kunsthalle ausgestelltes Werk von Rebecca Horn mit dem Titel „Inferno“ erinnert:
Krankenhausbetten. Schläuche mit roter Flüssigkeit. Ausgeliefertsein. Es gibt kaum Worte, um Lebensgrenzerfahrungen zu beschreiben, wie ich sie 2024 durchgestanden habe. Die Bilder, die die raumgreifenden Installationen mit der Sprache der Kunst dokumentieren, sagen mehr als alle Worte.
Leena Kivinen Montag, 6. Januar 2025
Vielen Dank. Und ja, die Kunst on der Schule zu behalten ist lebenswichtig.