Bildungsweise

Susanne Posselt

Du hast die Wahl

Du hast die Wahl, ob du Menschen freundlich begegnest. 
Du hast die Wahl, darüber nachzudenken, ob dein Handeln Folgen für unseren Zusammenhalt hat. 
Du hast die Wahl, ob du dein eigenes Wohl in den Mittelpunkt stellst, oder ob du auch an das anderer Menschen denkst. 
Du hast die Wahl, ob du, bevor du handelst, erst einmal nachdenkst. 
Du hast die Wahl, ob du dich sachlich am Finden von Lösungen von schwierigen Fragen beteiligst.

Niemand hat gesagt, dass es leicht ist, die Wahl zu haben. Im Gegenteil: Manchmal ist es ganz schön anstrengend. 

Es ist anstrengend, deinen Mitmenschen freundlich zu begegnen, obwohl du vielleicht wütend bist 
Es ist anstrengend, sich gründlich zu informieren, lange Texte zu lesen und intensiv nachzudenken. 
Es ist anstrengend, die Perspektive anderer Menschen zu übernehmen und sich zu überlegen: „Wie geht es ihnen wohl in ihrer Situation?“ 
Es ist anstrengend, viele verschiedene Argumente gegeneinander abzuwägen, bevor du eine Entscheidung triffst.
Und es ist anstrengend, mit Menschen, die anderer Auffassung sind, in den Diskurs zu gehen.  

Ich habe lange über diesen Text nachgedacht.  Eigentlich wollte ich einen Text über Demokratiebildung in der Schule schreiben. Aber: Was ist eigentlich Demokratie und wo fängt diese Demokratiebildung an? Und: Ist es allein Sache der Schule, die Werte der Demokratie zu schützen?

Ich habe gemerkt: Es fängt bei mir selbst an.

Es fängt damit an, dass ich freundlich bin, auch jenen gegenüber, die mich vielleicht verletzt haben. 
Es fängt damit an, dass ich mich gründlich informiere, bevor ich irgendetwas behaupte. 
Es fängt damit an, dass ich hinterfrage, aber auch zugebe, wenn ich mich geirrt habe.
Es fängt damit an, dass ich bereit bin, Kompromisse einzugehen.
Es fängt im Kleinen an, damit es im Großen wirken kann.

Baden-Württemberg bekommt ab dem kommenden Schuljahr ein neues Schulgesetz. Demokratiebildung erhält darin einen großen Stellenwert. Schulen sollen Projekte durchführen, damit Jugendliche lernen, was eine Demokratie ist. Sie sollen lernen, wie sie sich an dieser Demokratie beteiligen können. Sie sollen lernen, Verantwortung zu übernehmen. Gemeinsam. Füreinander.

Aber auch hier fängt es doch im Kleinen an. Demokratie braucht Zeit. Sie braucht Beziehung und Begegnung. Sie braucht erwachsene Menschen, die vorleben, was es bedeutet, demokratisch zu handeln. Es bedeutet: Wenn viele Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Ansichten, zusammen leben oder lernen, müssen sie in der Lage sein, Kompromisse zu schließen. Demokratie bedeutet Freiheit. Sie bedeutet aber auch Verantwortung.

Da ist niemand, der uns vorschreibt, wie wir zu leben haben. Und das ist gut so. Unser einziger Maßstab ist das Grundgesetz mit seinen Grundrechten und Grundwerten. Kinder und Jugendliche müssen lernen, was diese Grundrechte sind. Und mehr noch: Sie müssen erfahren, dass diese Grundrechte auch für sie gelten: 

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. GG Art. 1,1

Gestern ist Margot Friedländer verstorben. Ich kannte sie nicht persönlich. Aber sie war einer jener Menschen, die mich tief berührt haben, wenn ich sie gehört, gesehen oder über sie gelesen habe. Ihr ist Schlimmstes widerfahren. Und doch hat sie für sich entschieden, dass der Hass nicht das letzte Wort haben soll. Sie war nicht auf Vergeltung aus, dabei hätte sie jedes Recht dazu gehabt, weil ihr das Schlimmste widerfahren war. Es ging ihr um Versöhnung und um Dialog. Sie sagte:

Seid Menschen.

Ich spreche mit meinen inzwischen erwachsenen Kindern über solche Dinge. Ich spreche mit ihnen darüber, wenn ich mir Sorgen mache, dass selbst Erwachsene immer weniger bereit sind, gründlich nachzudenken. Wenn sie unsere Grundrechte nicht kennen und nicht wissen, warum es diese Grundrechte gibt. Warum Entscheidungen in einer Demokratie oft mühsam erkämpft werden müssen und man dafür Geduld, Denkanstrengung und Bedenkzeit braucht. Wenn sie lieber irgendwelchen 30-Sekunden-Videos bei TikTok Glauben schenken und dann sagen, das sei eben ihre Meinung. Wenn sie dabei nicht unterscheiden können, was eine Behauptung ist und was ein Argument und was eine begründete Meinung. 

Meine Tochter hat mich heute Morgen gefragt: „Was ist eigentlich mit den Kindern und Jugendlichen, die keine Eltern haben, mit denen sie über schwierige Fragen reflektieren können?“ Ja, was ist mit denen? 

Für die bleiben nur andere gesellschaftliche Institutionen, mit Menschen, die sich Zeit für Gespräche, Diskussion und Diskurs nehmen können. Zum Beispiel die Schule. Du und ich. Erwachsene Vorbilder, die demokratische Werte und demokratisches Handeln vorleben. Meine Tochter sagte auch: In ihrer Schulzeit habe es keinen Raum für Diskussionen über kritische Fragen, keine Zeit für Auseinandersetzung und keine Lehrkräfte, an denen man sich ein Vorbild hätte nehmen können. Wie beschämend.

Und so ist das Ende dieses Textes wie der Anfang: Du hast die Wahl. 

Du hast die Wahl, ob du in deinem Umfeld ein Vorbild sein möchtest. 
Du hast die Wahl, ob du im Lehrerzimmer oder sonstwo schlecht über Kinder oder Kolleg:innen sprichst, von den Kindern aber erwartest, dass sie niemanden beleidigen. 
Du hast die Wahl, die demokratischen Gremien deiner Schule, deiner Gemeinde und deines Landes zu kennen und dich daran zu beteiligen. Zumindest indem du wählst. 
Du hast die Wahl, dich gründlich über jene zu informieren, die sich zur Wahl stellen. 
Und du hast die Wahl, verantwortlich zu wählen. Nicht nur für dich und deine Interessen, sondern für das Gemeinwohl. Und damit ist in einer globalisierten Welt nicht nur unser begrenzter nationalstaatlicher Kosmos gemeint.

Demokratiebildung fängt bei dir selbst an. Deshalb: Sei ein Vorbild.

P.S.: Vorbemerkung: Eine Reihe von bildungsaffinen Bloggern hat sich zum Ziel gesetzt, 2024 und 2025 häufiger thematisch gemeinsam zu bloggen. Die Themenvorschläge werden an dieser Stelle gesammelt, alle Beiträge zum aktuellen Thema sind unter dem Beitrag zu finden. Zusätzlich habe ich eine beschreibbare Taskcards-Pinnwand erstellt. Die gibt’s hier.

Weiter Beitrag

Kommentar verfassen

© 2025 Bildungsweise

Thema von Anders Norén