Große Aufregung um Kompass 4. In Baden-Württemberg gibt es eine neue verbindliche Grundschulempfehlung. Allein das Wort ist ja schon ein Widerspruch in sich. Entweder ich empfehle eine Schule und ich kann mich frei entscheiden, ob ich dieser Empfehlung folgen möchte oder es gibt eine verbindliche Zuweisung. In Baden-Württemberg hat man offensichtlich Angst, dass zu viele Eltern ihre Kinder auf das bald wieder neunjährige Gymnasium schicken wollen. Eigentlich kein Wunder: Alljährlich wird medienwirksam über die Abiturprüfungen berichtet, Gymnasien haben besondere Profile und wenn die Kinder in dieser Schulart gestresst wirken, gibt es eine Volksabstimmung mit großer Resonanz, die sich für eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium ausspricht.
Nun haben sich also die Eltern durchgesetzt, die für ihre ohnehin schon privilegierten Kinder auch noch eine Verlängerung der Schulzeit erreichen wollten. Um den Run auf die nun vermeintlich entspannteren Gymnasien zu verhindern, hat das IBBW einen landesweit einheitlichen standardisierten Test für die Fächer Mathe und Deutsch entwickelt, um damit möglichst objektiv feststellen zu können, ob ein Kind in der vierten Klasse intelligent genug für das Gymnasium ist. Unglücklicherweise hat sich dabei herausgestellt, dass es viel weniger Kinder sind, die nach den Maßstäben dieses vermeintlich objektiven Testes Leistungen auf gymnasialem Niveau erbringen. Dumm gelaufen.
Was folgt daraus?
Möglichkeit 1: Die Kinder in Baden-Württemberg sind leider nicht so intelligent, wie man es sich erhofft hat. Dann haben wir offensichtlich zu viele Gymnasien. Wir müssen also Gymnasien schließen, die überflüssigen Lehrkräfte an die anderen Schularten der Sekundarstufe eins schicken und das Gymnasium zu dem machen, was man offensichtlich wollte: einer Schulart, die wirklich nur die Besten eines Jahrgangs besuchen können. Sehr elitär. Eigentlich sollte das auch überhaupt kein Problem sein, schließlich betonen wir ja überall die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems. Am Gymnasium lernen nur noch die Kinder, die es wirklich können, die anderen Schularten kümmern sich um jene, die noch Zeit brauchen.
Möglichkeit 2: Wir fragen uns ernsthaft, warum eigentlich ausgerechnet das Gymnasium viel attraktiver als andere Schularten ist. Wir kommen zu dem Schluss, dass unser Schulsystem in seiner derzeitigen Form mehrere Probleme hat:
- Fangen wir beim Lehramtsstudium an: das Gymnasiallehramtsstudium gilt als schwierig und dennoch attraktiv. Wer es geschafft hat, Studienrat oder Studienrätin an einem Gymnasium zu werden, hat bessere Aufstiegschancen als Lehrkräfte anderer Schularten. Es gibt sogenannte Funktionsstellen unterhalb der Schulleitungsebene und man verdient als Lehrkraft an einem Gymnasium mehr als als Lehrkraft an einer Grundschule. Man studiert die Fächer, für die man sich interessiert und Pädagogik und Erziehungswissenschaft sowie pädagogische Psychologie spielen eine untergeordnete Rolle. Schließlich lernen am Gymnasium nur jene Kinder, die bereits soweit erzogen sind, dass sie keine besonders pädagogisch qualifizierten Lehrkräfte mehr brauchen. Man ist nicht einfach nur Lehrer oder Lehrerin, sondern man trägt einen beamtenrechtlichen Titel: Studienrat. Man kann außerdem Oberstudienrat werden und, wenn man sich besonders fachlich qualifiziert, kann man Fachberater Unterrichtsentwicklung werden und verdient dann so viel, wie ein Schulleiter oder eine Schulleiterin einer großen Schule der Sekundarstufe.
- Gymnasien haben oft besondere Profile, etwa Musik, Kunst oder MINT. Es gibt zahlreiche AGs, Chöre und Projektgruppen. Da Gymnasien momentan (noch?) nicht so stark vom Lehrkräftenmangel betroffen sind, kommt auch niemand auf die Idee, dass man die Lehrkräfte aus dem AG Nachmittag in die Grundschule schicken könnte, um dort Unterricht zu vertreten. Genau das passiert aber an jenen Schulen, an denen eine Primar- und Sekundarstufe in einer Organisationseinheit verbunden sind. Das gibt es übrigens hauptsächlich bei Gemeinschaftsschulen oder Werkrealschulen. Meine persönliche These ist ja, dass der Lehrkräftemangel die Gymnasien nur in bestimmten Fächern erreichen wird, die in der freien Wirtschaft deutlich besser bezahlt werden. In den Fächern Deutsch, Geschichte und bestimmten Sprachen wird es diesen Lehrkräftemangel nicht geben. Gleichzeitig sind die Gemeinschaftsschulen für die überzähligen Lehrkräfte offensichtlich auch kein attraktiver Arbeitsplatz, das zeigen die jährlichen Versetzungsanträge weg von dieser Schulart.
- Immerhin fließt jetzt etwas mehr Geld in die Grundschulen. Allerdings ist der Sekundarbereich jenseits der Gymnasien dabei völlig aus dem Blick geraten. Was geschieht mit jenen Jugendlichen, die nach der Grundschule nicht über ausreichende Sprachkompetenzen verfügen, um den Bildungsgängen der Sekundarstufe folgen zu können? Was ist mit all jenen Kindern und Jugendlichen, die große Probleme mit ihrer Impulskontrolle oder ihrer Konzentationsfähigkeit haben? Die als verhaltensoriginell gelten? Die in Armut aufwachsen und nicht über den gesellschaftlich als angemessen empfundenen Habitus verfügen? Warum wundert man sich darüber, wenn bildungsnahe Elternhäuser ihre Kinder nicht in Schulen schicken wollen, die man als „Restschule“ bezeichnen könnte? Schulen, die all jene aufnehmen, die Probleme mit ihrem Verhalten, mit ihrer Motivation oder mit der deutschen Sprache haben?
Ich bin selbst nun so lange als Lehrerin und Mitglied von Schulleitungsteams im System tätig, dass ich nur zu dem Schluss kommen kann: Es ist politisch überhaupt gar nicht gewollt, die Potenziale jener Kinder zu entfalten, deren Elternhaus nicht privilegiert ist. Man lässt die Schulen, die sich um diese Kinder kümmern, mit ihren Problemen alleine und hofiert weiterhin ausschließlich die Gymnasien. Auf politischer Ebene gewinnt man oft den Eindruck, dass nicht mit den Betroffenen, sondern nur über die Betroffenen gesprochen wird. Ich erinnere mich an Diskussionen aus dem Landesschulbeirat, wo von „den Hauptschülern“ die Rede war. Das klang dann immer so, als ob man über eine bestimmte Tierart spricht, die man hauptsächlich im Zoo bewundern kann. Wir haben ein gesellschaftliches Problem, das nicht offen angesprochen wird. Große Bevölkerungsgruppen fühlen sich abgehängt und sind auch überhaupt nicht mehr bereit, am politischen Diskurs teilzunehmen. Ich finde, man sollte sich wirklich fragen, ob wir uns das leisten können, angesichts eines jetzt schon bestehenden Fachkräftemangels, der uns zeigt, dass wir jedes einzelne Kind brauchen.